Artenvielfalt am Mauerstreifen: Der Lückenfüller
100 Meter Schussfeld haben sich die DDR-Grenzer freigehalten. Damit kann der Schwarzstorch gut leben. Ein Besuch im ehemaligen Grenzstreifen.
MITWITZ taz | Yeojin Kims Reise hat sich nicht gelohnt. 8.700 Kilometer ist die junge Frau aus Korea nach Mitwitz gereist. Jetzt läuft sie mit dem iPad in der Hand auf einer verregneten Wiese umher und sucht nach einem Grenzpfahl, Resten von Stacheldraht oder etwas Ähnlichem. Doch sie findet nichts. Links schaut der junge Winterweizen aus dem Acker, rechts wächst Gras. Mindestens 371 Menschen wurden an der innerdeutschen Landesgrenze außerhalb Berlins getötet, heute liegen hier nur noch die Lochbetonplatten, über die einst die DDR-Grenztruppen fuhren. „Die Grenzanlagen sind alle abgebaut“, sagt Stefan Beyer.
Seit 25 Jahren ist er im Auftrag des BUND für das Grüne Band zuständig. So haben Naturschützer den ehemaligen Grenzstreifen getauft. Wegen seines außerordentlichen Artenreichtums könnte das Gebiet bald in den Rang eines „Nationalen Naturmonuments“ erhoben werden – es wäre das erste in Deutschland. Bis nach Südkorea hat sich das herumgesprochen. Dort will die Regierung ein „Friedensmonument“ auf der Grenze zum Norden errichten. Gedacht ist an einen „Park für Dialog, Versöhnung und Natur“, sagt Yeojin Kim.
Der Regen wird stärker, sie steckt das iPad wieder ein. Kim ist Teil einer koreanischen Delegation, die geschickt wurde, um hier, wo das Land über Jahrzehnte in Ost und West geteilt war, nach Anregungen für das Projekt zu suchen. Die Enttäuschung steht ihr ins Gesicht geschrieben. „Wir dachten, das hier könnte ein Modell für uns sein. Aber es ist doch etwas anderes“, sagt Kim. Das Grüne Band macht auf den ersten Blick nicht viel her.
Enormer Artenreichtum
Die Menschen mussten damals in der DDR bleiben, die Vögel hätte niemand aufgehalten. Doch auch sie blieben, und Beyer beobachtete sie. Schon Jahre vor der Wende hat der Biologe aus Franken mit dem Fernglas den Todesstreifen abgesucht und dort Arten entdeckt, die es in Bayern mit seiner intensiven Landwirtschaft kaum noch gab. Als der Fall der Mauer absehbar war, schickten Naturschützer an Alfred Dick, den damaligen bayrischen Umweltminister, einen Brief. Sie wollte prüfen, wie der Artenreichtum an der DDR-Grenze bewahrt werden könnte. Dick erteilte vier Biologen den Auftrag, die Tierwelt auf den gut 400 Kilometern zu inventarisieren, wo sich Bayern und Thüringen berühren. Beyer war einer davon.
Ein Jahr hatten sie dafür Zeit. „Bei der Vogelkartierung sucht man vor allem singende Männchen, die versuchen, ein Weibchen in ihr Revier zu locken.“ Beyer und seine Kollegen wiesen etliche Arten nach, die auf der Roten Liste stehen. „Die Grenztruppen wollten freie Sicht und Schussfeld. , sagt er. Büsche wurden entfernt, landwirtschaftliche Nutzung war im Sperrgebiet meist verboten. Keine Traktoren, keine Düngemittel, keine Herbizide. „Das war ökologisch sehr positiv.“ Der BUND sprach von der „Mitgift der deutschen Einheit“. Heute weiß man, dass zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen über 1.200 bedrohte Tier- und Pflanzenarten im Grünen Band leben.
Zum Beispiel der Schwarzstorch. „Ein Kulturflüchter“, sagt Beyer. Wo Menschen sind, zieht er sich zurück. Nach den Aktionen „Ungeziefer“ und „Festigung“, mit denen die Stasi ab 1952 Tausende als nicht linientreu geltende DDR-Bürger aus dem Grenzgebiet vertrieb, gab es genügend Raum für den Storch. Auch das hoch gefährdete Braunkehlchen fühlte sich wohl. „Es braucht Abstand zu Gehölzen, um Greifvögel und Füchse rechtzeitig kommen zu sehen. Das ist im genetischen Programm solcher Arten verankert“, sagt Beyer. 200 Meter freie Sicht sind ideal.
Ökologisch wertvoll
Freie Wiesen gibt es auch anderswo. Aber fast immer werden sie landwirtschaftlich genutzt. Im Mai kommt der Mähdrescher, für die Bodenbrüter ist das der Tod. Mäht aber niemand, wachsen erst Büsche, dann Wald. In beiden Fällen können Wiesentiere nicht bleiben. So ist es gerade das Unnatürliche, was das Grüne Band ökologisch so wertvoll macht. „Unser Plan war, das Grüne Band komplett zu sichern“, sagt Beyer. Das „Rückgrat eines durchgängigen Biotopverbunds“, 1.400 Kilometer lang, von der Ostsee bis in den Frankenwald, sollte entstehen.
Die koreanische Delegation verabschiedet sich. Beyer fährt einige Kilometer weiter, zur Föritz, die vom Thüringer Wald zum Obermain fließt. Der DDR-Grenztruppe brachte der Bachlauf zu viel Unruhe in ihren Hochsicherheitsstreifen. Kurz bevor das Wasser aus dem Arbeiter-und-Bauern-Staat herausfloss, zwängte sie es wie zur Strafe in einen unterirdischen Schacht. Erst im Westen gelangte es wieder an die Oberfläche. Beyer hat die Föritz wieder ausgegraben und ihr neue Mäander spendiert, in denen das Wasser Sauerstoff tanken kann. „Die Renaturierung wurde mit Geld aus Ausgleichsmaßnahmen finanziert.“
So spricht er oft. „Habitatrichtlinie“, „wertgebende Art“, „Charaktervogel“, „Pilotregion“ – Naturschutz ist Bürokratie. Meist jedenfalls. „Wir könnten näher rangehen. Ich habe Gummistiefel im Kofferraum“, bietet Beyer an. Das Wasser fließt jetzt zwischen kleinen Büschen nach Bayern hinein, beregnet, und besiedelt von seltenen Bachmuscheln und Libellen, als habe die Diktatur auch für den Fluss ein Ende.
Das Mauergrundstücksgesetz
In den letzten Wochen ihrer Existenz wies die DDR 14 sogenannte Großschutzgebiete aus. Das Grüne Band war, mit Ausnahme zweier kurzer Abschnitte, nicht darunter. Durch den Einigungsvertrag fiel die gesamte Fläche an den Bund, einen Teil verkaufte er auf dem freien Markt. 1996 beschloss die Regierung Kohl das Mauergrundstücksgesetz. Es ermöglichte früheren Eigentümern, Grenzgrundstücke für 25 Prozent des Werts zurückzukaufen. Die Rücknahme der Enteignungen gefährdete den Naturschutz. Aus dem Grünen Band drohte ein Flickenteppich zu werden.
Als nach 1998 auch die rot-grüne Koalition wenig unternahm, um das Grüne Band zu schützen, begann der BUND, Flächen aus Privatbesitz anzukaufen. Ein symbolischer Anteilschein kostete 65 Euro, auch der sowjetische Expräsident Michail Gorbatschow griff zu. „Meine erste Aktie“, sagte er. 2003 beschloss die Bundesregierung, den ihr verbliebenen Teil am Grünen Band – zwei Drittel der Fläche – den östlich angrenzenden Ländern zu schenken. Diese übertrugen sie meist auf Stiftungen, die für den Schutz sorgen. Das Problem ist der Rest.
Beyer fährt durch die Hügellandschaft, nach einigen Kilometern hält er an einem gepflügten Acker. Der Bauer will ihn nicht hergeben, Beyer hofft auf das Flurbereinigungsverfahren: Der Bauer soll ein Ersatzgrundstück bekommen, das die Naturschutzstiftungen außerhalb des Bandes erworben haben. Den Tausch kann die Untere Naturschutzbehörde anordnen, der Eigentümer kann aber klagen, wenn er findet, dass die Fläche nicht gleichwertig ist. Beyer faltet ein Luftbild auf. Darauf sind Flächen des Grenzstreifen markiert, die noch in Privatbesitz sind. Insgesamt 30 Prozent.
Der Tauschpool ist gut bestückt
Zum Beispiel ein kleines Wäldchen gleich gegenüber. „Da waren früher kaum Gehölze.“ Jetzt ist der einstige „Spurensicherungsstreifen“ vollständig zugewachsen. So nannte die DDR einen 6 Meter breiten, geharkten und geeggten Abschnitt vor dem Grenzzaun. In der Erde sollten Fußabdrücke von Republikflüchtlingen zurückbleiben. Der neue Besitzer unterlässt alle Eingriffe. Kein Ort für Wiesenvögel.
Beyer zeigt eine andere Wiese. „Der Bauer mäht und düngt zu oft.“ Am liebsten will er alle Flächen in den Besitz der Stiftungen überführen lassen. „Dann könnten wir direkt auf die Nutzungsart einwirken.“ Die Naturschutzbehörde in seiner Region habe ihm dafür Hoffnungen gemacht. Der Tauschpool ist noch gut bestückt. „Sie haben gesagt, es reicht, um alles aufzufüllen.“
Beyers Büro befindet sich im Turm eines 800 Jahre alten Wasserschlosses. Draußen dümpeln Enten im schwarzen Wasser, drinnen atmen die Mauern feuchte Luft aus. Den Erben wuchsen die Unterhaltskosten über den Kopf, der Landkreis Kronach musste das Schloss vor dem Zerfall retten. Die Ökologische Bildungsstätte liegt am Ende einer steinernen Wendeltreppe. Seit 1985 arbeitet Beyer hier.
Stiftungen der Länder
Was hat er erreicht? „Knapp die Hälfte des Grünen Bandes gehört heute den Ländern“, sagt er. Auf diesen Flächen ist der Naturschutz festgeschrieben, meist regeln dies die Stiftungen. Doch auch ihre Kosten sind hoch. Es sind meist Bauern, die die „Verbuschungsvermeidung“ durch Mahd oder extensive Beweidung besorgen – und dafür bezahlt werden müssen. Und ein „Nationalpark von der Ostsee bis nach Sachsen“, wie es Reichs-Eichhörnchenfilmer Heinz Sielmann wollte? „Aus Nationalparks muss sich der Mensch komplett heraushalten. Das geht hier nur sehr begrenzt“, sagt Beyer. Es geht nicht darum, die Natur sich selbst zu überlassen. „Wir wollen keine Käseglocke drüberstellen.“
25 Jahre nach der Wende sind die Schwarzstörche am Grünen Band häufiger geworden, das Birkhuhn aber ist ausgestorben. „1990 war unser Ziel, das gesamte Gebiet zu sichern. Davon sind wir noch weit entfernt.“ Den Menschen fern-, aber gleichzeitig die Natur in Schach zu halten, ist ein schwieriges Unterfangen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht