Arnold Schönbergs Jubiläum: 40 Minuten, die die Welt veränderten
Vor 100 Jahren entstand der Melodramenzyklus „Pierrot Lunaire“. Arnold Schönbergs Komposition stieß der Moderne die Tür auf.
Beifall von der anderen Seite muss nicht falsch sein. Schönbergs Antipode Igor Strawinsky nannte dessen 1912 in Berlin uraufgeführten Melodramenzyklus „Pierrot Lunaire“ später den „Solarplexus der Moderne“. Ein Bild, das gleich in mehrfacher Hinsicht zutrifft, auf Fragilität und Schärfe dieser bewusst in der kleinen Form angesiedelten Komposition ebenso wie auf die simultanen, aber höchst produktiven Schockwirkungen, die erste „Pierrot“-Aufführungen in den jeweiligen Rezeptionskontexten auslösten.
Das Versprechen uneingeschränkter Tonfreiheit beendete eine schier endlose Kette spätromantischer Zerfallsprodukte in der Musik, warf Ausdruckshülsen und emotionalen Ballast über Bord, um neue Ausdrucksmöglichkeiten aufzutun, und befreite das gesamte Arsenal hochentwickelter Kompositionstechniken seiner Zeit von den Fesseln der Konventionen, unter denen sie entstanden waren.
Aus der Summe seiner Anteile lässt sich die anhaltende Brisanz des „Pierrot Lunaire“ kaum erklären: 21 dreizehnteilige Gedichte mit gleichartigem Versaufbau von Albert Giraud, ein wenig rauschhaftes Selbsterleben, ein paar morbide Momente, ein paar milde Provokationen zeitgenössischer Moral, aufgehoben im symbolistischen Kontext und nicht von eigenständigem literarischen Wert, von Otto Erich Hartleben übersetzt, vom zahlenbesessenen Schönberg in drei Siebenergruppen geordnet und für ein siebenköpfiges Ensemble einschließlich Dirigent und Sprechstimme vertont.
Mit dem Pierrot ist ein gängiges Motiv in der bildenden Kunst der Zeit und noch mehr im aufkommenden Kunstgewerbe aufgegriffen, eine androgyne Traum- und Clownsfigur, mit der sich trefflich einer in der Zeit oft als bedrohlich empfundenen technischen Rationalität entfliehen lässt. Wo Es war soll Ich werden.
40 Minuten, die die Welt veränderten
In einer damals ungewöhnlichen, eher kammermusikalischen Besetzung formt Schönberg daraus gerade einmal 40 Minuten Musik, die die Welt verändern sollten. Schönberg selbst bildet dabei den expressiven Pol, der die einzelnen Farben der Komposition herausarbeitet und noch einmal den Nachklang und die Erinnerung aufkommen lässt an das Fieber, das die bürgerliche Gesellschaft von der Jahrhundertwende bis in den Ersten Weltkrieg hinein ergriffen hatte.
Im Part der Sprechstimme haben die Sopranistin Christine Schäfer 1997 mit Pierre Boulez und die Schauspielerin Barbara Sukowa zuletzt bei den Salzburger Festspielen 2011 Akzente gesetzt. Auch hier zeigt sich wiederum Polarität und Pluralität der Auffassungen, wobei Sukowa paradoxerweise „sängerischer“ wirkt als Schäfer, die unter dem Eindruck der Boulez’schen Sicht dem Material fast in einem aparten Zeigegestus begegnet, soweit das in den ekstatischen Höhen einzelner „Pierrot“-Teile möglich ist. Ein Vorrang der einen oder anderen Version lässt sich auch hier kaum ausmachen.
Das Stück ist auch nach 100 Jahren noch Referenz für zeitgenössisches musikalisches Denken, einschließlich des Scheiterns. Wenn musikalisches Schaffen jenseits der Brauchtumspflege eine Gegenwart haben soll, müsste weit mehr Schönberg gespielt werden.
Diesem Gedanken folgt das Arnold Schönberg Center, in Wien Sachwalter für den Nachlass des Komponisten und Statthalter für Neue Musik, in einem örtlichen Musik- und Opernbetrieb, der ihr, wiewohl sie unbestritten schon in die Jahre gekommen ist, noch immer weitgehend ignorant bis feindselig gegenübertritt.
Theodor W. Adorno und Pierre Boulez
Eine Ausstellung liefert Originaldokumente und Faksimiles aus der Entstehungsgeschichte des Werks. Gelungen ist die audiovisuelle Aufbereitung: Ein Rundfunkgespräch von Theodor W. Adorno und Pierre Boulez zu „Pierrot Lunaire“ über eineinhalb Stunden aus dem Jahr 1965 oder die Möglichkeit, „Pierrot“-Stücke aus sieben historischen Aufnahmen in den direkten Vergleich zu setzen.
Nach der „Pierrot“-Produktion zu den Salzburger Festspielen 2011 trat Barbara Sukowa im Wiener Konzerthaus noch einmal mit dem Stoff an. Anders als in der Salzburger Erarbeitung ohne Dirigent mit einem Ensemble um die Pianistin Mitsuko Uchida begleiten sie nun Mitglieder der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Michael Hasel. Es entfaltet sich ein präziser wie mitreißender Konzertabend in der Intimität eines kleineren Saales vor mancher lichten Reihe und nur beiläufig wahrgenommen im lokalen Feuilleton.
Hasel sucht eine zeitgemäße Reflexion über Schönbergs eigenen expressiven Interpretationsansatz. Nach dem einzigen und letzten E-Dur-Akkord, vor dem mehr Musik war als nach einem vierstündigen Opernabend, hebt das Programm noch einmal an zu einem double feature, der Uraufführung von „Moonsongs“, mit denen Uri Caine strukturähnlich und mit einem Baukasten zeitgenössischer musikalischer Mittel auf Schönberg reagiert.
Das ist eher eine undankbare Situation. Nach dem „Pierrot“ geht letztlich nichts mehr, aber um eine solche Auseinandersetzung, für sich allein genommen, nachvollziehen zu können, müssten ihn mehr Zuhörer im Kopf haben.
Die Ausstellung „Pierrot lunaire = 100“ läuft im Arnold Schönberg Center, Wien, bis 4. Januar 2013
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