Armin Nassehis Buch „Gab es 1968?“: Die große Inklusion
1968 führte zur Einbeziehung ausgeschlossener Akteure in die Gesellschaft. Das habe den Konservatismus gerettet, schreibt Armin Nassehi – ein Auszug.
Wer sich an „1968“ erinnert, kann zweierlei in den Blick bekommen: zum einen die kurze sichtbare Phase eines explizit linken, kaum mit der politischen Ordnung der Bundesrepublik kompatiblen Protests, der tatsächlich organisatorisch schnell in sich zusammenfiel; zum anderen eine implizit linke Veränderung in der Gesellschaft, die die deutsche Gesellschaft bis heute prägt und das wirksame Erbe der Generationslage „1968“ darstellt.
Als wirksames Erbe haben sich Inklusionsschübe vollzogen, in deren Folge es zu einer Generalinklusion der Bevölkerung kam. Dadurch ist es, so meine These, in allen westeuropäischen Ländern zu einem mehr oder weniger merklichen impliziten Linksruck gekommen – nicht explizit links gemäß der Vorstellung der radikalen Revolutionsperspektive des kleinen harten Kerns von „1968“, wonach die Gesellschaft ein umbaubares Objekt darstellt. Doch die Inklusionsdynamik hat durchaus zu einer diskursiven Beteiligung größerer Gruppen geführt, und es kam zu einer gruppenübergreifenden Prämiierung von Abweichung allein deshalb, weil die „Arbeitsteilung“ von Schichten und Milieus durcheinandergeriet.
So plausibel das erscheinen mag, so unbeantwortet ist die Frage danach, was das mit einer impliziten Linken zu tun hat. Nachdem weder Bildung noch kulturelle und künstlerische Betätigung, weder der Zugang zu Massenmedien noch die Möglichkeit von Fernreisen und nicht zuletzt Konsum jenseits des Notwendigen ausschließlich den bürgerlichen Schichten vorbehalten war, pluralisierte sich Teilhabe und Mitsprache.
Zugleich kam es zu erheblichen Komplexitätssteigerungen industrieller und planerischer Intelligenz in Kombination mit weltweiten Verflechtungen und wachsenden Interdependenzketten, also zu einem Trend dahin, dass sich Eindeutigkeiten auflösten und es stets so etwas wie eine zweite Version einer möglichen Interpretation gab. Die daraus folgende Verstärkung des deliberativen Elements öffentlicher Kommunikation hat tatsächlich eine implizite oder latente Form des Linken hervorgebracht. Inklusionsschübe sorgen nicht nur für eine Angleichung von Lebenslagen und Lebenschancen, etwa im Sinne von Helmut Schelskys „nivellierter Mittelstandsgesellschaft“, sondern eben auch als Pluralisierung von Möglichkeiten und Emanzipation des Neuen. Solche Phasen prosperierender Kommunikationsmöglichkeiten erzeugen fast automatisch das, was ich mit diesem Begriff des implizit Linken belegen möchte.
Solche Inklusionsschübe haben es ermöglicht, legitime Sprecherpositionen auszuweiten. Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons hat schon in den 1960er Jahren formuliert, Modernisierungs- und Differenzierungsprozesse bedeuteten vor allem die Inklusion von zuvor marginalisierten Gruppen als Vollmitglieder der Gesellschaft. Der Testfall für Parsons waren übrigens Schwarze, the Negro Americans, wie es damals noch hieß – für ihn der Lackmustest einer vollständigen Modernisierung der Gesellschaft, geschrieben in einer Zeit, in der in vielen Bereichen noch sogenannte „Rassentrennung“ herrschte – rechtlich, politisch, kulturell, materiell.
Kennzeichnend für westliche Industrieländer nach dem Zweiten Weltkrieg waren nicht nur jene beschriebenen Inklusionsschübe, sondern vor allem auch eine „Politisierung von Inklusion“. Man denke etwa an die Förderung von Bildungsmöglichkeiten für bildungsferne Schichten, an die Organisierung sozialen Aufstiegs, an die wohlfahrtsstaatliche Idee angemessener Lebenslagen und nicht zuletzt an einen kalkulierbaren Lebenslauf.
In der Generationslage der 68er kam es, vor allem in den 1970er Jahren, zu einer Erweiterung sozialer Hilfe von der reinen kompensatorischen Geldzahlung zur lebensweltorientierten sozialen Arbeit und Sozialpädagogik, typische Berufe jener sozialen Aufsteiger, die in ihren Familien die erste Generation mit einem Hochschulabschluss darstellten. Die Akademisierung der sozialen Arbeit ist Ausdruck der Politisierung von Inklusionsschüben zu Inklusionsstrategien, die gleichzeitig mit der Individualisierung von Lebenslagen korrelierte.
Damit wird der Staat zum Subjekt und Objekt von Ansprüchen, denn die etablierten Formen der Inklusionshilfe erzeugen Anspruchsberechtigungen, die nicht auf Gnade, Freiwilligkeit und Dankespflichten beruhen, sondern rechtliche Ansprüche gründen, man denke etwa an das 1971 in Kraft getretene „Bundesausbildungsförderungsgesetz“ (BAföG). Erst mit dem BAföG etablierte sich ein einklagbarer Rechtsanspruch auf Förderung der schulischen, beruflichen und akademischen Ausbildung zur Kompensation von Chancenungleichheit. Soziale Ungleichheit, Bildungsungleichheit wurde staatlicherseits nicht einfach als naturwüchsiges Ergebnis gesellschaftlicher Evolution (oder gar natürlicher Differenzierungen) angesehen, sondern zum Gegenstand kollektiv bindender, heißt politischer Entscheidungen gemacht.
Man kann diese Politisierung von Inklusion als eine Art Übersetzung politischer Protestformen in staatliche Inklusionsvermittlung bezeichnen. Die sozialen Bewegungen der westlichen Moderne – Arbeiterbewegung, Bürgerrechtsbewegung, Frauenbewegung, Friedensbewegung, Umweltbewegung, Homosexuellenbewegung usw. – haben interessanterweise nicht zu großflächigen Massenprotesten geführt, sondern ganz im Gegenteil zu inklusionsfördernden Reaktionen des Staates, der damit den Bewegungen zugleich recht gab und ihren unkontrollierbaren Protest unterminieren konnte. Der Wohlfahrtsstaat westlichen Typs ist in der Lage, visionären Protest in die Form des Verwaltungsakts zu bringen. Damit war womöglich die Protestgeneration der 1960er Jahre selbst ein Produkt der Folgenlosigkeit von Massenprotest im Wohlfahrtsstaat bei gleichzeitiger Anerkennung seiner politisierbaren und erreichbaren Ziele.
Die Politisierung der Inklusion ist das, was ich hier als das implizit Linke bezeichnen möchte. Es ist links, weil es die egalitären, auf soziale Ungleichheit zielenden Formen von Mitgliedschaft und Generalinklusion von Bevölkerungen offensiv angeht und sich mit jedem Schritt in Richtung Generalinklusion die Unmöglichkeit einhandelt, solche Formen wieder zurückzudrehen. Und es ist implizit links, weil es für die Verfolgung solcher Politik keiner explizit linken Semantik und Programmatik bedarf. Das führt denn auch dazu, dass eine prinzipielle Orientierung an Inklusionspolitik auch von nicht sozialdemokratischen politischen Akteuren nicht mehr vollständig vermieden werden kann.
Der Text ist ein Auszug aus „Gab es 1968? Eine Spurensuche“ von Armin Nassehi. Das Buch erscheint am 20. April in der kursbuch.edition.
Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit Herbst 2011 ist er neuer Herausgeber des Kursbuchs.
Zwar wurden die politischen Konflikte auf dem Feld inklusionspolitischer Themen geführt – aber letztlich mussten sich vor allem konservative Akteure am Ende geschlagen geben und selbst Strategien der Inklusionspolitik verfolgen. Dass die Inklusionsschübe nach dem Zweiten Weltkrieg schlicht eine normative Kraft des Faktischen erzeugt haben, lässt sich wohl kaum bestreiten. Es war zugleich Ursache, aber auch Effekt jener Inklusionsschübe, die die Generationslage der 68er ausgemacht haben.
Vielleicht wird vor diesem Hintergrund deutlich, wie doppelt merkwürdig und geradezu paradox es erscheint, wenn ein derzeitiges Selbstbewusstsein konservativer Politiker sich darin ausdrücken will, „1968“ endlich hinter sich zu lassen und loszuwerden. In aller Vorsicht formuliert: Vielleicht ist „1968“ als Generationslage bei Konservativen und Liberalen noch viel wirksamer gewesen als bei Sozialdemokraten, die von Ende der 1960er bis Anfang der 1980er die Agenda bestimmt haben.
Gerade der Konservatismus hat sich in Deutschland pluralisiert, nach Westen geöffnet und ist schichtendurchlässiger geworden. Diejenigen, die die Sozialdemokratisierung der CDU beklagen, haben völlig recht: Die Inklusionsschübe gesellschaftsstruktureller Natur haben vor niemandem haltgemacht, auch vor ihnen nicht. Das ist das implizit Linke, das mit dem explizit Linken wenig zu tun hat.
Dass es dem Wohlfahrtsstaat nicht gelungen ist, ein charismatisches Narrativ zu entwickeln, könnte mit diesem Verhältnis von implizit und explizit Linkem zu tun haben. Das Fehlen einer charismatischen Programmatik des Wohlfahrtsstaates und der Politisierung von Inklusionsansprüchen bringt paradoxerweise zum Ausdruck, dass die Funktion der Inklusionspolitik aufgeht: Versöhnung mit den Institutionen der Gesellschaft bei gleichzeitiger Individualisierung von Unzufriedenheit.
War „1968“ eine linke Bewegung? Ja, das war sie, aber anders als gedacht. Die ortlosen Utopien eines radikalen Gesellschaftsumbaus sind semantische Ikonen. Der Sound von Rudi Dutschke und die eschatologische Selbstermächtigung des harten Kerns sind das Ergebnis eines Freiheitsschubes, einer Möglichkeit der Abweichungsverstärkung. Sie sind nicht selbst der Schub und auch nicht die entscheidende Abweichung. Dafür waren sie zu kurz und zu laut. Aber sie bleiben Erzählanlässe, deren Gehalt mit der Erzählung verschwindet. Das lässt sich in der Unterscheidung einer implizit linken Veränderung der Gesellschaft von dem explizit linken Erzählanlass aufdecken. Also: Ja, es gab 1968. Es war das Ergebnis einer impliziten linken gesellschaftlichen Evolution, die erst die konsequenzfreie Rede von der explizit linken Revolution möglich gemacht hat. Deren Anfänge aber liegen nicht dort, wo üblicherweise gesucht wird.
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