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Arme Soldaten

Wer in der Türkei den Militärdienst verweigert, macht sich strafbar. Wer aber genug Geld hat, kann sich durch eine neue Regelung freikaufen.

„Alles für die Nation!“ – Das gilt vor allem für junge Männer, die sich nicht freikaufen können Foto: dpa picture alliance

Von Tunca Öğreten

Einst gründeten Militärs die moderne türkische Republik. Kein Wunder also, dass Militär und Wehrdienst einen so hohen Stellenwert im Land haben. „Jeder Türke kommt als Soldat zur Welt“, lautet ein oft zitierter Spruch. Bei der Beerdigung ihrer im Gefecht getöteten Söhne hört man Eltern sagen: „Es lebe das Vaterland!“

Nach offiziellen Angaben der türkischen Streitkräfte von August leisten derzeit rund 316.000 Rekruten ihren Wehrdienst ab. Wer einen Hochschulabschluss hat, dient nur sechs Monate, alle anderen zwölf. Jetzt ermöglicht eine neu eingeführte Regelung, sich gegen Zahlung einer festgelegten Summe von 15.000 türkischen Lira von der Wehrpflicht zu befreien. Das Verteidigungsministerium gab bekannt, dass bis zum 18. August dieses Jahres 357.350 junge Männer einen Antrag auf Freikauf gestellt hätten.

Der 27-jährige Bora Yılmaz* aus Diyar­bakır leistet seinen Wehrdienst bei der Gendarmerie im zentralanatolischen Konya ab. Jeden Morgen muss er um 6 Uhr aufstehen. Dann hat er genau 15 Minuten Zeit, um ins Bad zu gehen, sich zu rasieren und anschließend in den Tarnanzug zu springen. Sechs Monate hat er schon abgeleistet, sechs noch vor sich. Bora sagt, er bereue, zum Militär gegangen zu sein. Hätte er noch sechs Monate gewartet, hätte auch er sich freigekauft. „Wie unfair, dass sie jetzt den Freikauf ermöglichen, wo Zehntausende gerade unter Waffen ihrer Wehrpflicht nachkommen. Manche Kameraden sind richtig wütend auf die, die sich jetzt freikaufen“, sagt er.

Wer Geld hat, muss nicht zum Militär

In der Türkei gab es bereits in den Jahren 1987, 1992, 1999, 2009, 2011 und 2014 Regelungen, die es erlaubten zu bezahlen, statt den regulären Wehrdienst abzuleisten. 2011 kauften sich knapp 70.000 Männer für 16.600 Dollar frei, 2014 waren es gar 203.824 gegen Zahlung von 8.100 Dollar.

Staatspräsident Erdoğan spricht immer wieder von der großen Ehre, für das Vaterland zu sterben. Eine Ehre, die seiner Familie wohl erspart bleiben wird: Sein ältester Sohn Burak wurde wegen Untauglichkeit freigestellt. Der jüngere Sohn Bilal leistete gegen Zahlung einen 28-tägigen Grundwehrdienst ab. Am 3. August 2018 unterzeichnete Staatspräsident Erdoğan nun die neue Regelung. Danach kann man seinen Wehrdienst gegen Bezahlung von 15.000 Lira, umgerechnet etwa 2.100 Euro, auf 21 Tage Grundausbildung verkürzen.

Bora Yılmaz, der im Marketing arbeitet, kann von dieser neuen Regelung nicht mehr profitieren. Manchmal muss er nachts um zwei raus, im Halbschlaf schlüpft er in den Tarnanzug und geht auf Wache. Es gibt auch Nächte, in denen er die Uniform gar nicht erst auszieht, wenn er schlafen geht. Das sei bequemer, denn das Anziehen zum Wachwechsel koste Zeit. Er vermisst seine Familie, vor allem seine Verlobte. Tagsüber ist er mit der Ausbildung und Reinigungs­arbeiten beschäftigt. Am schlimmsten findet er das Kloputzen. „Wehrdienst bedeutet für mich, unter Befehl zu stehen, Druck ausgesetzt und weit weg von der Familie zu sein“, sagt er. Er denkt, dass eine militärische Grundausbildung von 40 bis 50 Tagen für alle ausreichend wäre. „Alles darüber hinaus bringt niemandem etwas“, sagt er.

Der Istanbuler Atılgan Dinç* will sich freikaufen. Er sei in seinem Familien­unternehmen, das im Bausektor tätig ist, stark eingebunden, erzählt er. Dass er mit seinen 30 Jahren noch nicht beim Militär war, erklärt er damit, dass er so viel arbeiten musste. Auch jetzt will er in den besten Jahren seiner Karriere nicht ein ganzes Jahr für den Dienst an der Waffe verlieren. Dinç bezeichnet sich als nationalkonservativ. Bei den Wahlen am 24. Juni hat er für das Wahlbündnis von Erdoğans AKP und der extrem rechten MHP gestimmt. Jeder junge Türke sollte eine militärische Grundausbildung machen, findet er. Schließlich müsse man wissen, wie man eine Waffe bedient – um im Notfall das Land verteidigen zu können. „Wenn es möglich ist, das Grundwissen in 21 Tagen zu vermitteln, warum wurde das bisher nicht umgesetzt?“, fragt er.

Für Cihan Yorulmaz* macht die neue Regelung keinen Unterschied mehr. Vor ein paar Wochen kehrte er nach zwölf Monaten Wehrdienst in seine Heimatstadt Bursa zurück, hier arbeitet er als Wachmann in einer Fabrik. Er schiebt Nachtschichten für den Mindestlohn, 1.603 Lira (ca. 227 Euro) verdient er im Monat. Gerade so noch kommt er über die Runden. Yorulmaz stört es nicht, dass die Freikaufregelung unmittelbar nach Ende seines Wehrdienstes beschlossen wurde. Denn er hat ohnehin nicht das nötige Geld, um sich freikaufen zu können. „Wie hätte ich mit meinem Hungerlohn denn 15.000 Lira aufbringen sollen?“, fragt er. Yorulmaz bezeichnet sich selbst als nationalistisch und ärgert sich über Regierungsanhänger, die sich freikaufen wollen: „Gestern riefen sie: ‚Führer, bring uns nach Afrin!‘, und heute stehen sie Schlange, um sich freizukaufen!“, kritisiert er.

Initiationsritus im Leben eines jeden Mannes

Wer in der Türkei den Militärdienst aussetzt, macht sich strafbar. Das Strafmaß liegt bei sechs Monaten bis drei Jahren Haft. Der 44-jährige Şendoğan Yazıcı aus dem osttürkischen Artvin ist einer von Zigtausenden Verweigerern aus Gewissensgründen. Dafür steht er vor Gericht. Auf die Frage, ob der Freikauf eine Chance für ihn sei, sagt er: „Ich lehne es ab, menschliche oder ökonomische Ressource für Krieg und Tod zu sein.“

Der Preis für die Verweigerung ist aber hoch. „Sie drohen jungen Leuten mit gesellschaftlichem Druck, mit Verlust des Arbeitsplatzes, mit Rekrutierung, verschrecken sie, drängen sie an die Wand und machen sich dann ihre Ängste und Sorgen zunutze, um ihnen den bezahlten Wehrdienst zu verkaufen“, sagt Yazıcı.

In der Türkei sei der Wehrdienst eine soziale Realität, die als „heiliger Initia­tionsritus“ im Leben eines Mannes akzeptiert sei, sagt der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu. Gleichzeitig sagt er auch: „Alle, ob sie nun Geld haben oder nicht, wollen sich heutzutage dem Wehrdienst entziehen. Er ist zur reinen Pflicht verkommen. Man benutzt ihn als politisches Druckmittel. Es sind die Ärmsten in der Gesellschaft, die heute noch ihre Wehrpflicht erfüllen und die in Ausübung des Dienstes ihr Leben lassen.“ Tanrıkulu kritisiert, dass Politiker patriotische Gefühle ausnutzen und den Militärdienst instrumentalisieren. Auch die neue Regelung zum Freikauf sei eine populistische Strategie. Sein Vorschlag: „Statt obligatorischem Wehrdienst müsste es vielmehr Berufssoldaten und eine Wahlmöglichkeit geben.“

*Name von der Redaktion geändert

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

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