Argentinien vor der Wahl: Bis auf die Knochen

Am Sonntag wird in Argentinien gewählt. Sollte der rechte Kandidat die Wahlen gewinnen, könnte das die Aufklärung der Militärdiktatur erschweren.

Eine Person zwischen Archivschränken

Die Fo­ren­si­ke­r:in­nen des EAAF untersuchen Knochen der „desparecidos“, der Verschwundenen. Hunderte sind noch nicht identifiziert, Tausende noch nicht einmal gefunden Foto: Anita Pouchard Serra/NYT/Redux/laif

Auf einem fahrbaren Tisch liegen die Knochen eines menschlichen Skeletts. Analía Gonzáles Simonetto beugt sich über einen Oberschenkelknochen, aus dem ein wenige Zentimeter langes Rechteck herausgefräst wurde. „Diese Knochen sind leider nicht sehr gut erhalten“, sagt Gonzáles Simonetto, „deshalb mussten mehrere Schnitte vorgenommen werden.“

Die Knochenrechtecke wurden in ein Labor für genetische Analysen geschickt, erklärt Gonzáles Simonetto. Die Ergebnisse werden dann mit der nationalen DNA-Datenbank abgeglichen. Gibt es ein Match, können die Reste des Körpers einer Familie zugeordnet und so identifiziert und beerdigt werden.

Doch was nach einem einfachen Vorgang klingt, ist ein Prozess, der sich oft über Jahre hinzieht. Gonzáles Simonetto und ihre Kol­le­g:in­nen versuchen, Morde aus der Zeit der Militärdiktatur aufzuklären. Jahre bevor die menschlichen Knochen überhaupt auf ihrem Tisch liegen, analysieren sie Schriftstücke, die etwa Hinweise auf versteckte Folterorte oder Gräber geben. Viele solcher Dokumente gibt es nicht, die Militärs haben dafür gesorgt, dass Beweisstücke über ihre Verbrechen verschwanden.

Gibt es nur grobe Hinweise auf einen Ort, wird auf Lasertechnik zurückgegriffen. Aus einem Flugzeug heraus werden mit Laserstrahlen Unregelmäßigkeiten im Erdboden gemessen, denn wer ein Grab gräbt, hinterlässt Spuren, egal wie tief die Höhle liegt. Ein anderer Weg zur Wahrheit führt über die Schilderungen von Überlebenden, die Zeu­g:in­nen von Verschleppungen wurden.

Doch es könnte sein, dass die Arbeit der An­thro­po­lo­g:in­nen schon bald noch schwieriger wird.

Am Sonntag sind knapp 46 Millionen Ar­gen­ti­nie­r:in­nen aufgefordert, ihre Stimme abzugeben. Aus den Vorwahlen am 13. August ist der ultrarechte, libertäre Javier Milei mit über 30 Prozent als Sieger hervorgegangen. Seine Agenda ist es, die „politische Kaste“ abzulösen, den Staat zu bekämpfen, Steuern abzuschaffen. Milei reiht sich ein in die Riege ultrarechter Politiker Lateinamerikas, die eines eint: die Ablehnung „des Systems“, die Zersetzung der Demokratie. Für Argentinien ist diese Entwicklung neu, und das Timing könnte kaum symbolischer sein. Erst 1983, also vor 40 Jahren, war das Land nach 7 Jahren Militärdiktatur zur Demokratie zurückgekehrt. Die Bilanz: 30.000 Menschen hatte das Regime entführt und ermordet, sie gingen als desparecidos, die Verschwundenen, in die Geschichte ein.

Wie lange noch?

Javier Milei hat diese Zahl mehrfach öffentlich angezweifelt. Sein Wahlsieg wäre ein Hieb für jene, die sich für die Aufklärung der Verbrechen der Militärs einsetzen.

Genau darin besteht die Arbeit des Equipo Argentino de Antropologia Forense (EAAF), des Teams für forensische Anthropologie. Die nichtstaatliche Organisation aus Argentinien wird heute von Kolumbien über Kosovo bis in den Kongo für Ausgrabungen oder Trainings angefragt. Finanziert wird die Arbeit durch Projektgelder, Universitäten, Gerichtshöfe oder Regierungen.

Die Frage ist: Wie lange werden sie der Arbeit im eigenen Land noch nachgehen können?

Die taz war im Oktober 2022 zu Besuch beim EAAF in Buenos Aires und hat vor den anstehenden Wahlen wieder mit den Fo­ren­si­ke­r:in­nen gesprochen. Das Gebäude, eine alte Lagerhalle, die zum forensischen Labor und Archiv umfunktioniert wurde, liegt auf dem Gelände der ehemaligen Militärschule ESMA. Es ist einer der wichtigsten Orte der argentinischen Geschichte. Hier haben die Militärs über Jahre hinweg Zehntausende Entführte festgehalten, gefoltert und getötet.

Doch auch in anderen Teilen des Landes wurde gemordet und verscharrt. So geschah es im Falle eines Massengrabes in der Provinz Tucumán. Drei Männer – zwei ehemals politische Verfolgte und ein Nachbar aus der Gegend – gaben im Februar 2002 Hinweise auf den Ort des Grabes. Zwei Monate später begannen die Ausgrabungen. Zwei Jahre lang legten Fo­ren­si­ke­r:in­nen und Ar­chäo­lo­g:in­nen unter anderem des EAAF in weißen Schutzanzügen und blauen Gummihandschuhen Quadratzentimeter für Quadratzentimeter unzählige menschliche Überreste mit zerfallener Kleidung frei. Bald war klar: Was vor ihnen lag, war das bisher größte gefundene Massengrab Lateinamerikas. Doch was zum Vorschein kam, waren nicht etwa feinsäuberlich aufgereihte Skelette, sondern ein Haufen Knochen.

Wahrheit in blauen Kisten
Virginia Urquizu, Sozialanthropologin im EAAF-Team für foren­sische Anthropologie

„Manchmal kommt da einiges hoch, nach 40 Jahren Schweigen. Oft hatten die Familien die Trauer und die Angst vor der Wahrheit verdrängt“

Ein großer Teil dieses Haufens liegt 20 Jahre später in einem hohen kahlen Raum des EAAF. Eine Forensikerin steht verloren an einem der Tische. Sie hält einen Oberschenkelknochen in der Hand. Vor ihr liegen Dutzende weitere Exemplare. Langsam arbeitet sie sich vor, vergleicht jeden Knochen auf dem Tisch mit dem Knochen in ihrer Hand auf der Suche nach dem passenden zweiten Bein. Das ist mit bloßem Auge möglich, weil die Knochen eines Menschen individuelle Merkmale haben, erklärt sie. Die Überreste jedes Menschen werden in einer blauen Plastikkiste aufbewahrt. Die Kiste ist so lang wie der Oberschenkelknochen des Menschen, denn er ist der längste Knochen, den Menschen haben. Wenn die Knochen zugeordnet sind, wird trotzdem noch einmal eine DNA-Analyse gemacht, um sicherzugehen, dass eine Familie am Ende nicht das Bein eines Fremden begräbt.

Doch die Arbeit der An­thro­po­lo­g:in­nen besteht nicht nur aus der Analyse von totem Material, sie beschäftigen sich auch intensiv mit den Lebenden, den Suchenden, den Angehörigen der Vermissten. So auch Virginia Urquizu. Sie ist keine forensische, sondern Sozialanthropologin. „Jede Familie ist ein eigenes Universum“, sagt Urquizu in einem Büro nahe dem EAAF-Labor. Die Grundvoraussetzung sei, dass die Familie „diese Tür wirklich öffnen will“. Die Tür zur Wahrheit, wie viel Schmerz sich auch hinter ihr verbirgt. Da müsse sie zu Beginn immer erst vorfühlen, auch wenn die meisten Familien sich von sich aus beim EAAF meldeten. „Es ist immer eine Abwägung zwischen der historischen Aufarbeitung und dem emotionalen Schutz der Familien.“

Oft seien es die Geschwister von Vermissten, die sich meldeten, und weniger die Eltern. „Sie wollen das Suchen nicht aufgeben, können nicht loslassen. Sie wollen ihre Kinder lebend wiedersehen.“ Doch gerade, weil die Geschwister selbst unter der endlosen Suche der Eltern so litten, hofften sie auf Erlösung durch die Wahrheit.

So ein Interview mit den Angehörigen dauere manchmal ein paar Stunden. Oft erzählten die Betroffenen ihre Lebensgeschichte. Auch weil es die Erzählenden beruhige, sie dabei die Angst verlören. Dann fragt Urquizu die Erinnerungen an die vermisste Person ab. Jedes Detail kann wichtig sein: Welche Kleidung trug die Person, wo ging sie wann hin mit welchem Ziel? Und die körperlichen Merkmale: Hatte die Person Narben, Knochenbrüche, Zahnlücken?

Beim Gebiss wird akribisch nach Eigenarten gesucht, denn die Zähne verwesen besonders langsam. „Wir fragen auch immer nach Fotos von früher, auf denen die vermisste Person lächelt. Wir hatten schon einen Fall, da konnten wir an einem besonders schiefen Zahn, den das Lächeln auf dem Foto entblößte, sehr schnell einen Kiefer eines Skeletts zuordnen und so die Person identifizieren.“ Urquizus Begeisterung ist spürbar. Dann schiebt sie nach: „Natürlich ist es nicht leicht für die Familien, alte Fotos ihrer Vermissten anzuschauen. Wir müssen da sehr behutsam vorgehen.“

Abschied mit Gitarre

Nach dem Interview gibt die Familie eine DNA-Probe ab. Urquizu versucht, keine allzu großen Erwartungen zu wecken. Denn auf das Interview folgen meist Monate des Wartens und nicht immer ein Match. In den darauffolgenden Monaten halte sie oft Kontakt. „Manchmal kommt danach dem Interview einiges hoch, nach 40 Jahren Schweigen. Oft hatten die Familien die Trauer und die Angst vor der Wahrheit verdrängt.“

Meldet das DNA-Labor ein Match, versucht Urquizu, die Nachricht persönlich zu überbringen, nicht am Telefon. „Es ist wichtig, dass die Person nicht allein ist.“ Sie überreicht ein Dossier über die Funde, dann wird ein Termin vereinbart für die Übergabe der Reste der Angehörigen. „Manche weinen, bei anderen regt sich keine Miene. Es kommt ihnen unwirklich vor.“ In einigen Fällen hätten Angehörige ein Ritual vorbereitet, sie umarmten die Knochen, sangen oder spielten Gitarre.

Die Familien seien paradoxen Gefühlen ausgesetzt. Da sei Erleichterung, endlich Gewissheit zu haben, und gleichzeitig ein tiefer Schmerz, die Hoffnung, die vermisste Person lebend wiederzufinden, wortwörtlich begraben zu müssen.

Bis heute hat der EAAF etwa 1.000 Vermisste aus der Militärdiktatur identifizieren können. An die 600 gefundene und analysierte Überreste liegen in blauen Plastikboxen im Archiv des EAAF. Weil ihre Angehörigen verstorben sind oder weil sie nicht mehr suchen. Der EAAF hat deshalb 2020 eine Kampagne für die Enkelkinder der Vermissten gestartet, um sie zum Suchen zu animieren.

Aus dem Pozo de Vargas, der Grube von Vargas in Tucumán, konnten bisher 116 Personen identifiziert werden. Der an den Ausgrabungen beteiligte An­thro­po­loge Ruy Zurita zog 2022 gegenüber dem Online-Medium elDiarioAR eine bittere Bilanz: 20 Jahre nach Beginn der Ausgrabungen gebe es angesichts der schleppenden Fortschritte „nicht viel zu feiern“. Es fehle an politischem Willen und einer stabilen Finanzierung. Die Folge sei ein „Auf und Ab“ für die Arbeit der Fo­ren­si­ke­r:in­nen und ihre Bezahlung, das demoralisiere sie.

Das EAAF möchte sich dazu und auch zu einem eventuellen Regierungswechsel zugunsten des ultrarechten Lagers von Javier Milei offiziell nicht äußern. Zu groß ist wohl die Angst, dass ihr die staatliche Unterstützung gekürzt, wenn nicht ganz gestrichen werden könnte – auf Kosten jener Familien, die noch immer suchen und hoffen.

Die Recherche fand im Rahmen eines Austauschprogramms des Vereins Internationale Journalisten Programme e.V. (IJP) in Argentinien statt.

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