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Argentinien in Corona-KriseMehr Dylan als Perón

Der Peronismus als Chamäleon: Argentiniens Präsident Alberto Fernández managt die Coronakrise bislang souverän. Doch der Druck wird größer.

Argentiniens Präsident Alberto Fernandez winkt von einem Balkon Foto: Ricardo Moraes/reuters

Buenos Aires taz | Das hochgelobte Corona-Krisenmanagement von Alberto Fernández bekam zuletzt ein paar kleine Risse. In einer Rede an die Nation kündigte der 61-jährige Peronist, der Argentinien seit Dezember regiert, einige Lockerungen der seit 19. März verfügten Quarantäne an. Doch er ruderte schnell zurück.

In der argentinischen Hauptstadt, den dicht besiedelten Teilen der Provinz Buenos Aires, sowie in den Metropolen Rosario und Córdoba müssen Kinder, Jugendliche und Alte weiterhin zu Hause bleiben. Alle anderen dürfen kurz einkaufen oder brauchen eine Sondergenehmigung.

Doch die Unternehmer machen immer stärker Druck. Und viele Ar­gen­ti­nie­r:innen werden nun weniger aus Angst vor dem Coronavirus nervöser, sondern weil ihnen zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. Oder weil sie schlichtweg Geld verdienen müssen. Letzte Woche am Donnerstagabend gab es den ersten massiven Cacerolazo, minutenlanges Topf- und Pfannenschlagen. Zehntausende taten so ihren Unmut über die Entlassungen von Häftlingen wegen Covid-19 kund.

Im TV fordern Moderator:innen eine Politik der harten Hand, Trolls twittern #Wo­SindDieFeministinnen oder #Al­les­Verfault. Und die großen Tageszeitungen La Nación und Clarín kritisieren nun wieder häufiger, dass die „radikale“ Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner (CFK) dem Staatschef das Leben schwermache.

Zur Person

Gerhard Dilger leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Buenos Aires.

Fernández und Kirchner

Die Kirchners und der jetzige Präsident Alberto Fernández – das ist ein Kapitel für sich. 1998 lernten sie sich schätzen. So wie unter Staatschef Néstor Kirchner (2003–2007) hatte Fernández auch unter Präsidentin Cristina Kirchner (2007–2015) zunächst die Position des Wahlkampfleiters und Kabinettschefs inne.

Eine Freiwillige steht an der Tür zu einer Suppenküche während der Coronakrise in Buenos Aires. Foto: AP

Bis zum Zerwürfnis 2008, das vor allem an CFKs polarisierendem Regierungsstil lag. 2010 starb Néstor Kirchner, weitere acht Jahre verstrichen bis zur erneuten Annäherung der political animals Fernández (die nicht verwandt sind).

Vor einem Jahr dann überraschte Cris­tina mit einem genialen Schachzug: Weil sie das Duell zur Präsidentenwahl gegen ihren verhassten konservativen Nachfolger Mauricio Macri hätte verlieren können, wagte die Linksperonistin kein Comeback. Jedenfalls nicht an vorderster Spitze. Stattdessen rief sie zur Wahl Alberto Fernández’ als Präsidentschaftskandidaten auf – mit sich selbst als Vize. Im Oktober bezwangen die vereinten Peronist:innen das neoliberale Unternehmerlager um Multimillionär Macri deutlich.

„Pragmatischer Blick auf die Wirtschaft“

Was es denn mit diesem Peronismus auf sich habe, wollte Bundeskanzlerin Angela Merkel wissen, als sie Fernández im Februar zum Abendessen in Deutschland empfing. „Wir sind keine Populisten, wie viele glauben“, erwiderte der Gast aus Südamerika. Und Kirch­ner betonte, wie die argentinischen Medien berichteten, man habe einen „pragmatischen Blick auf die Wirtschaft“.

Ganze Bibliotheken sind über die nach Mussolini-Verehrer Juan Domin­go Perón (1895–1974) und seiner ersten, charismatischen Frau Evita (1919–1952) benannte Bewegung vollgeschrieben worden. Anders als die europäische Sozialdemokratie erfreute sie sich auch im 21. Jahrhundert noch guter Gesundheit – auch ein Verdienst des Kirchner-Fernández-Trios. Ein Gefühlszustand sei der Peronismus, hört man zuweilen. Die Partei spielt oft kaum eine Rolle, Sozialpolitik für die Armen jedoch schon.

Der Peronismus versteht sich oft „nacional-popular“, nicht unproblematisch. Neben einer begeisterungsfähigen Massenbasis und kompetenten Berufspolitiker:innen finden sich auch extrem unappetitliche Gewerkschafter und Provinzfürsten in den Reihen der Peronisten. Wie etwa auch der greise Senator und ultraliberale Ex-Präsident Carlos Menem (1989–1999). Fernández hingegen ist eher ein So­zial­de­mokrat alten Typs, der schon vor Corona auf den Ausbau des Wohlfahrtsstaats setzte.

Die frühere Präsidentin Argentiniens Cristina Fernandez de Kirchner an der Seite von Fernandez Foto: Imago

68 und die Folgen

Néstor und Cristina Kirchner waren argentinische 68er, die vom hiesigen Rolling Stone schon mal in John-und-Yoko-Pose dargestellt wurden. Auf die Depression 2001/02 und eine Phase breiter Selbstorganisierung von unten folgte ab 2003 der kirchneristische Aufbruch, wirtschaftlich wie politisch. Die Menschenrechte rückten nach vorne, Hunderte Mörder und Folterer aus der Militärdiktatur (1976–1983) kamen hinter Gitter.

Es war die argentinische Version des verblichenen südamerikanischen Linksrucks in den Nullerjahren. Mit Lula und Hugo Chávez verhinderte man die Freihandelszone von Alaska bis Feuerland und setzte auf Integration mit Kuba und Distanz zu den USA.

Die alten Freundschaften sind noch da. Nach dem Wahlsieg besuchte Alberto Fernández Brasiliens Lula im Gefängnis, Evo Morales aus Bolivien gab er Asyl. Auf Regierungsebene allerdings ist es einsam geworden. Da gibt es heute nur noch Andrés Manuel López Obrador in Mexiko.

Bob Dylan, Joan Baez, Walt Whitman und argentinische Rockmusik hätten ihn mehr beeinflusst als Juan Domingo Perón, bekannte Fernández. Sein Collie heißt Dylan, und für Twitter und Instagram zupft er schon mal ein paar Akkorde, bevor er seinen Fans eine fürsorgliche Botschaft mitgibt. Patti Smith brachte ihm im November ein Ständchen dar und versuchte ihn zur Ökologie zu bekehren. Echte Alternativen zu Fracking, Bergbau oder Sojaexport werden von den Peronisten zwar noch nicht diskutiert, doch immerhin gibt es wieder ein Umweltministerium.

Vier Fünftel des Volks hinter Fernández

Laut Umfragen hat der gelernte Jurist, Verwaltungsbeamte und Rechtsprofessor derzeit fast vier Fünftel der Bevölkerung hinter sich. Im notorisch gespalteten Argentinien ist dies sensationell. Und ein Ergebnis seiner raschen Reaktion auf Corona. Die Ausgangssperre wurde in Argentinien präventiv verhängt. Das Ergebnis: anders als in Brasilien kaum Tote und sehr wenige Infizierte.

Fernández repräsentiere einen „mütterlichen Staat“, sagt die Feministin Rita Segato. Und er spreche in der Krise „eine einfache Sprache, die verbindet“. Obwohl der Präsident mitunter paternalistisch klingen mag, weiß Fernández dank seiner klaren Haltung für die Legalisierung der Abtreibung die meisten Feministinnen hinter sich. Und in der LGBTQ-Community punktet er mit seinem bisexuellen Sohn.

Doch „der nicht praktizierende Katholik“ hat auch zu Papst Franziskus einen guten Draht und lässt sich auch von Armenpriestern bei Sozialmaßnahmen beraten.

„Onkel Alberto“

„Onkel Alberto“ rede allen nach dem Mund, kritisiert denn auch der Kolumnist Alejandro Borensztein. Er teile die Stellen im Staatsapparat unter den peronistischen Strömungen auf. Am Ende regiere Mittelmaß. Und die Skepsis des Präsidenten gegenüber dem Freihandelsabkommen EU-Mercosur wird nicht nur von Bankern oder Agrarunternehmern kritisch gesehen.

In der Coronakrise stehen zudem neue Verhandlungen zu Umschuldungen mit den privaten Gläubigern an. Sie werden wohl Einbußen hinnehmen müssen. Auch in Argentinien droht eine tiefe Rezession, bei schon jetzt 16 Millionen Armen birgt sie eine enorme soziale Sprengkraft. Ein Gesetzentwurf zur Besteuerung der Superreichen ist noch lange nicht durch den Kongress.

Alberto Fernández wird bei alldem die Geschicklichkeit eines Seiltänzers benötigen, um in den kommenden Monaten nicht abzustürzen.

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