: Archiv der Erinnerung geöffnet
■ In einer für Deutschland einmaligen Video-Edition des Moses-Mendelsohn-Instituts für europäisch-jüdische Studien erzählen 78 Überlebende "ihre Geschichte der NS-Verfolgung"
„Wenn wir später sagen, was wie hier erlebt haben, dann glaubt uns das kein normaler Mensch.“ Doch Werner K. hat es versucht. Erfolgreich. Der heute knapp 80jährige kämpfte 1943 in Auschwitz ums Überleben und erzählt jetzt erstmals seine Geschichte auf Video. Ingesamt 78 Überlebende der Shoah hat das Moses-Mendelsohn-Institut für europäisch-jüdische Studien in Potsdam in Zusammenarbeit mit dem Brandenburger MedienPädagogischenZentrum und der Yale University befragt, um „die Geschichte der NS-Verfolgung aus den Augen jüdischer Zeitzeugen festzuhalten“, wie der Leiter des Instituts, Julius Schoeps, sagt.
Die Video-Edition „Archiv der Erinnerung“ steht nicht im Zusammenhang mit der Shoah-Foundation, deren MitarbeiterInnen unter dem Regisseur Steven Spielberg bisher mehr als 48.000 Interviews mit Holocaust-Überlebenden in 50 Ländern auf Video aufgezeichnet hat. „Wir haben lange vor Spielberg begonnen, haben nur Zeitzeugen aus Berlin und Brandenburg befragt und wollten damit pädagogisch und wissenschaftlich arbeiten“, so Schoeps.
Die Edition des Moses-Mendelsohn-Instituts sei „bisher einmalig in der Bundesrepublik“. Die Volkswagen-Stiftung hat das „Archiv der Erinnerung“ mit 800.000 Mark unterstützt.
Die kompletten Interviews, die zwischen Januar 1995 und Dezember 1996 aufgenommen wurden und teilweise sechs Stunden und länger dauern, können jetzt erstmals in der Berliner Gedenkstätte „Haus der Wannseekonferenz“ angeschaut werden.
Zusätzlich wurden sechs Interviews auf jeweils vierzig Minuten gekürzt, um sie in den Schulen im Geschichtsunterricht zu zeigen. „Wir lassen die Erzählung wirken, ohne den Zeigefinger zu heben“, sagt die Koordinatorin Irene Diekmann. Jugendliche, die die Videos bereits gesehen haben, seien „sehr beeindruckt“ gewesen. So hätten Schüler beispielsweise geäußert, daß sie jetzt endlich verstünden „was in den Lehrbüchern“ stände.
Und wenn Werner K. erzählt, dann wird die Vergangenheit plastisch: In dem Video, das in einem kargen Zimmer aufgenommen wurde, spricht er detailgenau darüber, wie er ins Konzentrationslager Auschwitz transportiert wurde, eine Nummer eintätowiert bekommt und dann das erste Mal die Krematorien sieht.
Die Aufseher erzählen K., daß die Verbrennungsöfen eine „Bäckerei“ seien: „Aber was das für eine Bäckerei war, hat man schon am nächsten Tag gemerkt, als man merkte, daß da Hautfetzen durch die Luft flogen von Verbrannten; und von dem Geruch, der da rüberkam, daß da alles andere als Brot gebacken wurde“, sagt der spätere Pressefotograf in der Dokumentation.
Die sechs ausgesuchten Zeitzeugen, die größtenteils von Therapeuten befragt und durch Zeitungsannoncen gefunden wurden, veranschaulichen exemplarisch die wichtigsten Aspekte der Judenverfolgung während des Nationalsozialismus. So geht es bei Werner K. um die KZ-Haft, Hertha B. erzählt dagegen von ihrer Emigration näch Palästina. Andere Themen sind das Überleben im Versteck oder die spezielle Verfolgungsproblematik in einer brandenburgischen Kleinstadt. Das Interview mit Gisela M., geboren 1925, ist ein Beispiel für die komplexe Lage derjenigen, die während der Nazidiktatur als „jüdische Mischlinge ersten Grades“ galten. M. berichtet von der Ausgrenzung, vom vergeblichen Kampf der Familie um das Überleben des jüdischen Vaters und von ihrer Teilnahme am einzigen öffentlichen Massenprotest während der NS-Zeit in der Berliner Rosenstraße. Julia Naumann
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