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Das pralle Leben

AUSSTELLUNG Die Geschichte der Homosexuellen ist kaum erforscht. Das DHM zeigt nun gemeinsam mit dem Schwulen Museum* die ganze Bandbreite des Regenbogens seit dem späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Ausstellung und Veranstaltungen an zwei Standorten

Bis zum 1. Dezember präsentiert die Ausstellung „Homosexualität_en“ eine umfassende Schau zu Geschichte, Politik und Kultur der Homosexualität – und thematisiert den gesellschaftlichen Umgang mit Homosexualität unter Aspekten sozialer, juristischer und wissenschaftlicher Repression und die Emanzipation seit dem späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Beide Einrichtungen wollen damit den Diskurs um die Gleichberechtigung Homosexueller zum Anlass nehmen, ein sowohl gesellschaftlich als auch politisch aktuelles Thema in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Neben zahlreichen Sonderveranstaltungen bietet die Ausstellung an jedem ersten Donnerstag und zweiten Samstag im Monat kostenlose öffentliche Führungen in deutscher Sprache an. Programm unter: www.schwulesmuseum.de

■ Homosexualität_en: Schwules Museum*, Lützowstraße 73, Deutsches Historisches Museum – DHM, Unter den Linden 2, bis 1. 12.

VON MARTIN REICHERT

Nun sind die LGBTIQ also im Museum gelandet. Genauer: im Deutschen Historischen Museum Unter den Linden, „Homosexualitä_ten“ heißt die von einem Team um die Kuratorin Birgit Bosold erarbeitete Ausstellung, die in der letzten Woche offiziell eröffnet wurde – und doch stimmt der erste Satz nicht ganz: Die Schwulen sind nämlich schon seit den achtziger Jahren in Museum, im Berliner Schwulen Museum, mit dem das DHM nun zusammengearbeitet hat. Und während zum Beispiel das „Stone Wall Inn“, jene legendäre Homobar in der New Yorker Christopher Street, die 1969 zur Keimzelle der neueren Schwulenbewegung avancierte, just unter Denkmalschutz gestellt wurde, tobten am vergangenen Wochenende wie gehabt die Gay Prides durch die Stadt, heuer waren es immerhin nur zwei.

„Wir sind alle anders. Wir sind alle gleich“, so lautete das Motto des diesjährigen CSD Berlin. Und irgendwo zwischen den Begriffen Vielfalt und Emanzipation lässt sich die Geschichte der LGBTIQ (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersex and Questioning) erzählen – was dieser Doppelausstellung auf charmante, anregende Weise gelingt. Erstmals in dieser Größenordnung und Relevanz. Die Geschichte der Homosexuellen, bislang kaum erforscht, war lange Zeit nur Eingeweihten bekannt: Wer weiß schon, dass das kleine Lindenwäldchen hinter der Neuen Wache unter den Linden einst ein beliebter „Cruising“-Treffpunkt für schwule Männer war – zu Kaiser Wilhelms Zeiten?

Einen Steinwurf von diesem Wäldchen fand nun am letzten Donnerstag die Eröffnung der Ausstellung statt – und natürlich gab es bereits im Vorfeld Auseinandersetzungen und Debatten, unter anderem um das Ausstellungsplakat des kanadischen Performancekünstlers Heather Cassils. Zu sehen ist eine Frau mit dem muskulösen Körper eines Mannes, gepiercten Brüsten, einer Narbe und knallrot geschminkten Lippen – doch allein diese Beschreibung ist bereits eine Zuschreibung. Das Terrain der Identitäts- und Geschlechterpolitiken ist hochvermint, das Ausstellungsteam ist dieser Problematik geschickterweise mit schierer Fülle und Reichhaltigkeit begegnet – der Unterstrich im Ausstellungstitel, der sogenannte Gender-Gap, ist Programm, denn hier soll es eben nicht nur um homosexuelle Männer gehen, vielmehr soll die gesamte Bandbreite des Regenbogens gezeigt werden. Und doch werden die Besucher nicht mit ideologischen Einbettungen und Wahrhaftigkeitsansprüchen konfrontiert, die selbst Betroffene kaum verstehen, sondern mit dem prallen Leben. Biografien werden mit Hilfe von Ton- und Bildmaterial erfahrbar – gewöhnliche Homosexuelle geben so Auskunft über ihr Sein. Der Rest ist zunächst „Wildes Wissen“, Schauwände in alphabetischer Ordnung, die den Kern der Ausstellung bilden. Ein herrliches Sammelsurium aus Kunst, Krempel und historischen Dokumenten: Bilder von lesbischen Selbsterfahrungsworkshops im Hunsrück, Zeitungsausschnitte aus der Hochzeit des politischen Kampfes der Schwulen- und Lesbenbewegung in den siebziger und achtziger Jahren, Schuhe, Fummel, Sexspielzeug. Auch eine sogenannte Klappentür mit „Gloryhole“ und diversen Original-Inschriften ist zu besichtigen

Im zweiten Stockwerk stehen dann jene Kräfte im Vordergrund, die diesem prallen Leben entgegenzuwirken suchten und suchen. Ein Raum widmet sich der Verfolgung der Homosexuellen im Nationalsozialismus. Ausgestellt ist unter anderem ein Elektroschockgerät der Firma Siemens aus den fünfziger Jahren, das der Therapie der Homosexualität dienen sollte. In einer Installation kann man sich als Besucher versuchsweise selbst „in die Ecke stellen, unterhalb von antihomosexuellen Kampfslogans à la „Lassen Sie bitte unsere Kinder in Ruhe“ (Wladimir Putin).

Das Terrain der Identitäts- und Geschlechterpolitiken ist hochvermint

Im Schwulen Museum in der Lützowstraße wird darüber hinaus versucht, gegenwärtige Debatten darzustellen. Wie wird, wie soll die Zukunft der Geschlechterordnung und der Sexualitäten sein? Welche Bündnisse von „trans*, inter* und queer-feministischen Akteur_innen“ sind möglich oder nötig, um die gesellschaftliche Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt voranzutreiben?

Letzterer Teil ist sozusagen für Fortgeschrittene – und all das, inklusive eines voluminösen Veranstaltungsteils mit Podiumsdiskussionen und einem Filmprogramm, bildet ein Gesamtpaket, das es vielleicht nicht allen recht macht, aber auch niemanden ausschließt. Vor allem auch nicht solche Besucher, die sich mit der Materie noch nicht näher beschäftigt haben. Es lohnt sich, sich auf diese Ausstellung einzulassen, man sollte allerdings ein bisschen Zeit mitnehmen.

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