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„So eine Art Gegengehirnwäsche“

WIRTSCHAFTSKRISE Nicolas Stemann lädt im Thalia Theater zum letzten Mal zum Theater-Happening um Elfriede Jelineks „Kontrakte des Kaufmanns“. Erstmals sind dabei alle Texte zu hören, die im Verlauf der Wirtschaftskrise entstanden sind

Nicolas Stemann

■ 46, inszeniert seit 1995 für das Theater. Seit 2002 arbeitet er eng mit der österreichischen Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek zusammen, deren Stücke er oft zur Ur- und Erstaufführung gebracht hat.

INTERVIEW ROBERT MATTHIES

taz: Was macht das Theater heute politisch, Herr Stemann?

Nicolas Stemann: Natürlich geht es darum, sich mit bestimmten Inhalten zu befassen. Aber das ist nur der Ausgangspunkt. Es ist wichtig, einen Unterschied zwischen Theater und Politik zu machen. Man ist schnell in der Gefahr, dass das Theater der Politik untergeordnet und nur noch nach politischen Begriffen bewertet wird, dass man also fragt: Was ist denn die Wirkung oder ist denn das politisch wichtig? Da sehe ich eine große Gefahr.

Dennoch zielen Sie auch auf politische Wirkung.

Wir machen Kunst und Theater, die sich mit Politik beschäftigen und die dann eine politische Wirkung entfalten. Das geht aber nur, wenn man sie erst mal Kunst sein lässt. Wir kreieren ein Erlebnis, wir schaffen eine Energie, wir ermöglichen es den Gedanken und den Worten, die Sprengkraft zu entfalten, die in ihnen wohnt. Dabei können wir im Theater helfen. Was dann passiert, bleibt jedem Einzelnen überlassen.

Mit Politik beschäftigt sich auch Ihre Inszenierung von Elfriede Jelineks „Die Kontrakte des Kaufmanns“, die am heutigen Samstagabend zum letzten Mal in Hamburg zu sehen ist. Das Stück war 2009 das erste, das sich mit der Weltwirtschaftskrise auseinandergesetzt hat.

Jelinek hat das ursprüngliche Stück wenige Wochen vor dem Lehman-Crash geschrieben. Das erzählte damals von österreichischen Wirtschaftsskandalen im Zuge der Subprime- und Immobilienkrise in den USA. Im Grunde sind aber alle Dinge, um die es später im Bankencrash ging, da schon vorhanden gewesen: diese merkwürdige quasi-religiöse Verbrämung von Geld und Finanzwirtschaft und diese alchemistische Verblendung, dass man aus nichts etwas machen kann – also dass man aus Schulden wiederum Profit und Geld machen kann.

Bis heute sind die „Kontrakte“ ein offenes work in progress. Immer wieder sind neue Texte dazugekommen, jeder Abend ist anders.

Kurz bevor es mit den Proben losging, kam plötzlich der Lehman-Crash und es war klar, dass man darauf reagieren muss. Die Wirklichkeit schrieb das Stück quasi weiter. Wir haben Jelinek dann gefragt, ob sie entsprechend auch ihren Text weiterschreiben möchte. Das hat sie gemacht, bis Ende 2014 hat sie immer wieder neue Texte geliefert, zu ganz verschiedenen Anlässen. Wir haben deshalb eine offene Form gewählt, die mit den neuen Texten umgehen konnte, haben sie immer wieder in unsere 99-Seiten-Fassung eingewoben. Es ist keine konventionelle Inszenierung, sondern eine Textumsetzungsmaschine. Was wir aber nie gemacht haben, ist tatsächlich alle Texte hintereinander zu lesen.

Nun wird also erstmals der gesamte Corpus zu hören sein?

Diese Texte sind eine einzigartige Chronik der Weltwirtschaftskrise von 2008 bis heute, in einer dichterischen und dramatischen Form. Mir war wichtig, dass man diesen literarischen Schatz noch einmal zeigt und ein Resümee zieht: Was ist da eigentlich passiert in den letzten Jahren? Es ist so eine Art Gegengehirnwäsche, gegen die neoliberale Gehirnwäsche, der wir die ganze Zeit ausgesetzt sind. Ich habe den Eindruck, dass das noch mal nötig ist, mit der Erfahrung der letzten Jahre. Wir haben das Ganze in eine Fassung gebracht, die jedes der sechs neuen Textstücke vorkommen lässt. Die Hälfte der Texte wird hintereinander zum ersten Mal gelesen. Das ist aber lange noch nicht der komplette Umfang des Textes.

Eine Textumsetzungsmaschine statt einer konventionellen Inszenierung, wie muss man sich das vorstellen?

Wir setzen uns einer Thematik, einer Theaterform und einem Text aus und laden die Leute ein, daran teilzuhaben. Normalerweise bekommt man im Theater ein Ergebnis präsentiert. Da stehen Leute erhöht auf der Bühne und sagen: Wir haben uns Gedanken gemacht und sind zu diesem Ergebnis gekommen. Hier ist es anders. Wir sagen von vornherein: Ihr könnt jederzeit gehen und wiederkommen oder es euch draußen ansehen. Wir tun derweil auf der Bühne unser Bestes, dass eine Energie entsteht, also dass es nicht langweilig wird oder leer oder selbstgefällig.

Im letzten Jahr haben Sie in Ihrer Inszenierung von Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ Flüchtlinge auftreten lassen. Man hat Ihnen vorgeworfen, sie damit nur auszustellen.

Was mich sehr wundert. Die Flüchtlinge agieren ja sehr eigenständig auf der Bühne, sie machen auf ihre Situation aufmerksam, und zwar auf eine Art, die für niemanden bequem ist. Es ist hier eigentlich nicht möglich, in der Rolle des bloßen Betrachters zu bleiben. Worum es mir beim Auftritt der Flüchtlinge ging, war, dass die Inszenierung ein Feld bietet, wo die protestierenden Flüchtlinge ihren Protest einem ganz anderen Publikum zeigen können. Ich denke, dass ein solcher Vorwurf eher eine Art Abwehr ist: Man sucht nach Strategien, sich dem nicht aussetzen zu müssen. Man diskutiert dann über etwas ganz anderes als das, worum es geht, nämlich die prekäre Situation der Flüchtlinge.

Stößt das Theater damit an seine Grenzen?

Was wir bei den „Schutzbefohlenen“ machen, wenn wir sagen: „Wir können euch nicht helfen, wir müssen euch spielen“, ist letztendlich eine Überschreitung dieser Grenzen. Das geht wiederum nur im Theater: dass man sich, während man politisch agiert, selbst reflektiert. Es ist eine besondere Kraft und Qualität, die es zu verteidigen gilt gegen den Anspruch an das Theater, dass es nur eine Wirkung haben und die Aufgaben lösen soll, die Politik und Sozialarbeit nicht gelöst bekommt. Das kann Theater auch, aber ich finde, dass es noch mehr kann.

Auch bei den „Kontrakten des Kaufmanns“ stehen nun Aktivisten mit auf der Bühne.

Wir haben unter anderem Aktivisten von Pro Wohnen, die Seniorinnen und Senioren von Ver.di und den Chor der Hamburger Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter dabei. Dazu kommen verschiedene Leute, die über Video ein Statement lesen: Jean Ziegler, Thilo Bode oder Alexander Kluge lesen Texte von Jelinek. Wir haben Leute gesucht, die sich im Moment in der Stadt gegen TTIP und Ceta wenden, aber auch gegen die ungebrochene Vorherrschaft neoliberaler Ideologie. Aber es ist keine Demo und keine Diskussionsveranstaltung. Jeder liest Jelinek – wir laden diese Leute ein, mit uns gemeinsam diesen Textberg abzutragen.

■ Kurz vor Redaktionsschluss haben wir erfahren, dass die Veranstaltung wegen Krankheit ausfällt

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