: „Die Elbe ist ein enges Revier“
ZUKUNFT ODER NICHT Ohne Lotsen kommen die Schiffe nicht in den Hamburger Hafen. Elblotse Ben Lodemann über seine Arbeit und die Nachwuchssorgen der Zunft
■ 48, geboren in Baden-Württemberg, machte sein Kapitänspatent in Bremen; er fuhr als Nautiker zur See und ist derzeit Ältermann der Lotsenbrüderschaft Elbe.
INTERVIEW SVEN-MICHAEL VEIT
taz: Herr Lodemann, warum werden auf einem großen Fluss wie der Elbe überhaupt Lotsen benötigt?
Ben Lodemann: Die Elbe ist vor allem für die großen Containerfrachter ein sehr enges Revier. Jeder kleine Fehler kann zu einer folgenschweren Situation wie Kollision oder Strandung führen. Deshalb sind speziell ausgebildete Lotsen mit exakten Ortskenntnissen notwendig.
Aber die Brücken dieser Schiffe sind voller Monitore und moderner Messgeräte – ist da Steuern nicht wie ein PC-Spiel?
Wenn es so wäre, stünde da einmal täglich „Damage. Reset“. In der Realität wäre das ein katastrophaler Schaden für Umwelt und Volkswirtschaft. Die Monitore und Messgeräte zeigen nur die Situation über Wasser, was darunter ist, kann man sich nur über Seekarten erschließen.
Aber es gibt doch Unterwassersonar oder Echolot.
Ja, bei der Marine oder Spezialschiffen gibt es Sonar. Diese Geräte unter dem Bug vergrößern aber den Tiefgang erheblich, und das will die Handelsschifffahrt vermeiden. Es würde Ladung vermindern und Treibstoffkosten erhöhen und somit die Rentabilität des Schiffes verringern. Und die Probleme auf der flachen Elbe weiter verschärfen. Ein Echolot zeigt nur die punktuelle Tiefe an einer Stelle und wenn dort dann „0“ steht, ist es zu spät.
Und woher wissen Lotsen, dass noch die berühmte Handbreit Wasser unterm Kiel ist?
Wir haben Peilpläne, ähnlich wie Messtischblätter in der Vermessung, die alle Kollegen in- und auswendig kennen müssen. Und deshalb wissen wir, wie tief und breit das Fahrwasser jetzt ist und in 20 und 100 und 1.000 Metern sein wird.
Beruhigend. Das Fahrwasser der Elbe ist meist mindestens 300 Meter breit. Warum dürfen dann zwei Schiffe mit einer addierten Breite von mehr als 90 Metern sich nicht begegnen? Da ist doch noch viel Platz.
Große Frachter sind nicht nur breit, sondern auch sehr lang – 300 Meter und mehr. Deshalb wirken viele Effekte auf das Schiff ein: Wind, Wellen, Strömungen. Deshalb fahren sie nicht geradeaus, sondern müssen vorhalten.
Also Zickzackkurs?
Gewissermaßen. Dass vergrößert die projektierte Breite eines Schiffes von 45 Meter auf vielleicht 60 Meter. Zwei Schiffe nehmen also schon 120 Meter Fläche ein. Bleiben von 300 Metern Fahrrinne noch 180 Meter: 60 links, 60 rechts und 60 in der Mitte.
Und das reicht nicht?
Doch, deshalb ist das ja die genehmigte Größe. Nur werden die Schiffe mittlerweile ja immer breiter, aktuell bis zu 56 Meter. Hinzu kommt, dass so ein Schiff 100.000 Tonnen Wasser und mehr vor sich her schiebt. Wenn zwei sich mit jeweils zehn Knoten begegnen, entsteht durch hydrodynamische Effekte eine ungeheure Dynamik mit starken Sog- und Druckkräften.
Da treffen also 200.000 Tonnen Wasserberge aufeinander?
Berge sind das falsche Bild, eher sehr dynamische Wassermassen. Da entstehen Turbulenzen zwischen den Schiffen und den Ufern, die ausgeglichen werden müssen. Diese Schiffe sind keine Autos mit Servolenkung auf festem Boden, die haben einen recht behäbigen Heckantrieb und schwimmen in einem flüssigen Medium. Da muss man schon Hunderte Meter im Voraus denken und lenken.
Und wenn man das nicht tut?
Dann könnten sie sich ansaugen bis zur Kollision. Oder sie stoßen sich ab, treffen mit den Hecks aneinander und einer fährt vielleicht noch in die Böschung.
Und wie verhindern Sie das als Lotse?
Wir müssen die Bewegungen der Schiffe antizipieren und vor der Begegnung einen Drehmoment hineinbringen, der das Abdrücken der Schiffe voneinander auffängt und sie letztlich geradeaus führt.
Das heißt, Sie fahren auf Crash-Kurs aufeinander los in der Erwartung, dass das Wasser dazwischen die Schiffe aneinander vorbeileitet?
Crash-Kurs würde ich das nicht nennen. Wir bewegen die Schiffe so, dass sie heil aneinander vorbeikommen, weil sie voneinander weg drehen.
Und das können auf der Elbe nur Lotsen, die ihr Revier kennen wie die berühmte Westentasche?
Ja. Wir wissen, wo das Ufer flach ist und Schiffe abstößt, wir wissen, wo unter Wasser Steilwände sind, die Schiffe regelrecht ansaugen. So können wir vorausschauend fahren.
Sie erwähnten Wind. Was kann der denn solchen Kolossen anhaben?
Bei Windstärke 6 lastet auf einem Containerfrachter von 400 Meter Länge ein Druck von bis zu 200 Tonnen. Kräftige Hafenschlepper ziehen mit 80, 85 Tonnen. In Fahrt bräuchten Sie also drei von den Kraftprotzen, um das Schiff auf Kurs zu halten. Dabei muss das Schiff entsprechend vorhalten, wie schon gesagt. Und jetzt kommt Ihnen in der engen Fahrrinne einer entgegen, der auch mit dem Seitenwind zu kämpfen hat.
Dann müssen Sie wohl besonders vorausschauend lenken.
Aber hallo!
Klingt fast so, als wäre es schon jetzt unverantwortlich, diese Riesenfrachter auf der Elbe fahren zu lassen.
Nein, das ist beherrschbar – noch.
Welche Qualifikation haben Sie und Ihre Kollegen eigentlich? Sie sind alle Kapitäne?
Das sind alles gestandene Seeleute, die jahrelang auf den Weltmeeren unterwegs waren und schon alles erlebt haben. Bei uns bekommen sie zusätzlich eine achtmonatige Ausbildung für das Revier. Im Schnitt macht ein Kollege hier 300 Einsätze im Jahr, zunächst auf kleineren Schiffen. Auf die ganz großen Pötte darf man erst nach 1.200 bis 1.500 Lotsungen.
Wie viele Elblotsen gibt es?
274 Männer und zwei Frauen.
Wie steht es um den Nachwuchs?
Schlecht. Es gibt fast keine deutsche Kapitäne mehr, weil kaum noch jemand zur See fährt. Und die deutschen Reeder stellen fast keine deutschen Offiziere oder Anwärter mehr ein, weil sie zu teuer sind. Da sind Kollegen aus Ostasien oder Osteuropa billiger.
Und warum können die nicht Elblotsen werden?
Können sie im Prinzip. Wir haben hier Kollegen aus Griechenland, Belgien, Holland oder Russland, das geht. Die Grundvoraussetzung ist jedoch, sehr gut Deutsch zu sprechen.
Aber die Bordsprache ist doch Englisch?
Stimmt. Aber in Notfällen müssen Sie mit Hilfsdiensten oder der Freiwilligen Feuerwehr aus einer Kleinstadt an der Elbe kommunizieren. Und dann ist der Brandmeister Klempner und spricht kaum oder gar nicht Englisch. Der chinesische Kapitän mit seiner Sprachfärbung, der ukrainische Lotse mit seiner und der niederdeutsche Feuerwehrmann – das funktioniert nicht in Ernstfällen. Der Lotse muss sowohl Englisch als auch Deutsch sehr gut sprechen, um die Notfallsituation in der Landessprache sicher abwickeln zu können.
Dann müsste es doch im Interesse der deutschen Reedereien sein, deutsche Offiziere auszubilden, die in Notfällen ihre Schiffe retten?
Die machen es aber nicht. Deshalb entwerfen wir gerade eine neue, von der Personalpolitik von Reedereien unabhängigen Lotsenausbildung. Die Pilotenausbildung erfolgt ja auch zum größten Teil in Flugsimulatoren. So ähnlich werden wir das auch machen müssen.
Im Schiffssimulator in Stellingen?
Sicher auch da, ja. Das ist eine der weltweit modernsten Anlagen, da werden wir die wichtigen und schwierigen Situationen und Manöver kompakt trainieren müssen. Auf Ausbildung an Bord werden wir aber nicht verzichten können. Wir denken auch über eigene Ausbildungsfahrzeuge nach. Wir konzipieren das noch, das ist erst im Entstehen.
Und warum haben die Reedereien kein Interesse an gut ausgebildeten deutschen Kapitänen und Lotsen?
Früher gab es Familienreedereien mit sechs oder neun Schiffen, die hatten zu ihren Schiffen eine Beziehung und kannten die ganze Besatzung. Heute sind das Konzerne mit Anteilseignern, die Rendite sehen wollen. Da interessiert das Schiff nicht und die Besatzung auch nicht. Deshalb sind langfristige Investitionen in gut ausgebildetes Personal nicht mehr von Interesse.
Aber an den Seefahrtsschulen wird doch weiterhin Nachwuchs ausgebildet?
Ja, und zwar gut. Die bekommen aber nach dem Studium keinen Job. An den vier Fachhochschulen für Nautik in Norddeutschland werden die Studiengänge kleiner, in Leer hatten sie jüngst keine einzige Bewerbung mehr. Es will kaum jemand in den Beruf, weil die Perspektiven fehlen.
Wie ist die Altersstruktur der Lotsenbrüderschaft Elbe?
Bis 2030 wird mehr als die Hälfte des jetzigen Personals in den Ruhestand gegangen sein.
Und wie ersetzen Sie die?
Einen Teil hoffentlich mit der neuen Ausbildung.
Und den anderen Teil?
Das wird schwierig.
Und was passiert mit dem Hamburger Hafen, wenn die Schiffe nicht mehr gelotst werden?
Das will ich mir gar nicht vorstellen.
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