Die musikalischen Blumen des Koran

POP & RELIGION Islam und Musik, wie geht das zusammen? Sehr gut, und sie haben sich in der Geschichte oft gegenseitig befruchtet. Nur die Fundamentalisten von heute hören das nicht so gerne

VON DANIEL BAX

Der Koran ist Klang. Nicht als Text wurde er offenbart, sondern auf akustischem Wege erreichte die Botschaft den Propheten Mohammed, der sie selbst mündlich weitergab, da er Analphabet gewesen sein soll.

Die Kunst der melodiösen Rezitation des Korans, Tadschwid genannt (Arabisch für „Verschönerung“), wird von gläubigen Muslimen deshalb hoch geschätzt und steht im Rang einer eigenen Wissenschaft. Es gibt Wettbewerbe, bei denen sich die virtuosesten Rezitatoren miteinander messen, und die Besten ihres Faches genießen die Popularität eines Popstars. Aber auch weltliche Künstler haben ihre Stimme am Koran geschult: große arabische Sängerinnen wie die Ägypterin Umm Kulthum und sogar die (christliche) Libanesin Fairuz haben ihn zu Beginn ihrer Karriere rezitiert, um ihren Ausdruck zu verfeinern.

Dem steht die ablehnende Haltung vieler islamischer Autoritäten zur Musik gegenüber. Denn obwohl – oder gerade weil – eine im Grunde musikalische Erfahrung im Zentrum des islamischen Glaubens steht, lehnen konservative Kleriker fast jede Musik ab. Gebetsruf und Koranrezitation gelten ihnen nicht als Musik, und in allen anderen Klängen wittern diese Hüter des Dogmas schon den Untergang des Morgenlands, weil sie angeblich vom rechten Glauben ablenke und zur Sünde verführe.

Diesen gelehrten Spielverderbern zum Trotz hat es in allen muslimisch geprägten Ländern schon immer eine enorme Vielfalt an musikalischen Ausdrucksformen gegeben. Das Verhältnis von Islam und Musik ist ein Beispiel für die „Kultur der Ambiguität“, die der Islamwissenschaftler Thomas Bauer in seinem gleichnamigen, bemerkenswerten Buch als Wesensmerkmal des traditionellen Islam beschreibt: die Fähigkeit nämlich, konkurrierende Wahrheiten und Widersprüche auszuhalten. Erst mit Anbruch der Moderne und dem Aufkommen eines Fundamentalismus, der auf Eindeutigkeit pocht, hat sich das geändert. Doch selbst im ultrakonservativen Königreich Saudi-Arabien oder unter dem Mullah-Regime im Iran gibt es heute Popstars und eine Rockszene, die von der Obrigkeit mehr oder weniger toleriert wird.

An den Höfen muslimischer Herrscher früher war man allerdings offener: Dort wurden einst verfeinerte Stile kultiviert, aus denen später die klassische arabische, türkische oder persische Musik von heute hervorgingen. Und nicht nur diese, denn der Islam war ja nicht nur in Cordoba, Bagdad oder Istanbul zu Hause, sondern gab auch in den westafrikanischen Königreichen im heutigen Mali, in den Palästen der Moghulherrscher in Nordindien oder den Sultanaten auf Sumatra und Java den Ton an. So groß, wie die geografische Distanz zwischen diesen Erdteilen ist, so groß ist daher auch die Bandbreite der Stile, die von islamischer Ästhetik geprägt sind.

Die Taarab-Musik etwa, die am Hofe der Sultane von Sansibar gespielt wurde, entstand im 19. Jahrhundert aus arabischen, europäischen und afrikanischen Einflüssen, später kamen indische Elemente aus Bollywood-Filmen hinzu. Heute gilt der Taarab als populäre, wenn auch etwas altmodische Unterhaltungsmusik, die auf Hochzeiten und zu vergleichbaren Anlässen gespielt wird. Die Musiker organisieren sich in „Clubs“, wobei ein Orchester klassischerweise aus mehreren Streichern und einem vielköpfigen Frauenchor besteht, die von arabischer Oud-Laute und Zither, einem indischen Harmonium und Percussion begleitet werden.

Obwohl es ein weltlicher Stil ist, haben auch die großen Taarab-Sänger das Singen meist als Kinder in der Koranschule gelernt. Selbst die große Siti Binti Saad lernte erst einmal das heilige Buch zu rezitieren, bevor sie Anfang des 20. Jahrhunderts das Taarab-Genre revolutionierte, indem sie es mit sozialkritischen Inhalten auf Swahili verband. Aus einfachen Verhältnissen stammend, war sie die erste Frau, die in Ostafrika eine Schallplatte aufgenommen hat.

Die Taarab-Musik steht auch im Zentrum des „Sauti za Busara“-Festivals, das jeden Februar eine steigende Zahl von Touristen nach Sansibar lockt. In diesem Jahr wird sich die Inselgruppe im Indischen Ozean auf dem „Africa-Festival“ in Würzburg präsentieren: mit Fotoausstellungen, Filmen und dem Auftritt des Taarab-Ensembles des Komponisten und Musikers Mohammed Issa Matona, der aus einer alten Musikerdynastie stammt.

Auch die Schattenseiten der Inselgeschichte werden dabei nicht ausgespart, denn Sansibar war lange Zeit nicht nur ein zentraler Umschlagplatz für Gewürze, sondern auch für den ostafrikanisch-arabischen Sklavenhandel. Der Präsident der Insel, Ali Mohamed Shein, lässt es sich trotzdem nicht nehmen, zur Eröffnung des Festivals nach Würzburg zu reisen – ein Zeichen, wie wichtig ihm die Außendarstellung seines Archipels ist.

Nicht nur Sansibar nutzt seinen musikalischen Reichtum, um für sich zu werben. In Marokko buhlen gleich zwei Orte, die Stadt Fes mit ihrem Festival of Sacred Music und die Hafenstadt Essaouira mit ihrem Gnawa-Festival um Musikfans aus dem Ausland. Und jahrelang lockte auch das von Tuaregs initierte „Festival au desert“ Musikfans aus aller Welt in die Wüste von Mali, bevor das durch den Bürgerkrieg dort zu gefährlich wurde.

So, wie es die Taliban in Afghanistan gemacht haben, wollten auch die islamistischen Milizen im Norden Malis jede Musik verbieten, als sie in die Stadt Timbuktu einrückten. Auch die IS-Milizen, die heute große Teile Syriens und des Iraks beherrschen, erlauben dort nur noch religiöse Gesänge, Nasheed genannt, die sie selbst zu Propagandazwecken einsetzen. Und sogar im pluralistischen Pakistan treten Qawwali-Sänger heute lieber hinter gesicherten Mauern auf als an Sufi-Schreinen, nachdem diese zum Ziel von Anschlägen wurden. Die größte Gefahr für die muslimische Tradition bilden derzeit diejenigen, die den Koran als eine Anleitung zu Mord und Totschlag lesen.

Die Mystiker des Islam setzen die Musik dagegen sogar als Mittel der Andacht ein. In Pakistan avancierte der ekstatische Qawwali-Gesang, der sich zu Harmonium und rhythmischem Händeklatschen in Lobpreisungen Allahs und seines Propheten in die Höhe schraubt, zu einem allseits populären Genre. In Anatolien wirkten die tanzenden Derwische, die sich zu den Tönen der Ney-Flöte und sanfter Percussion im Kreis drehen, bis sie verboten wurden; heute erleben sie wieder ein Revival. Und in Nordafrika sind die Gnawa-Bruderschaften, die sich zu rhythmischem Trommelschlägen in Trance wiegen, bis heute aktiv.

Auf diese Sufi-Traditionen berufen sich Popsänger wie Sami Yusuf, die ihre sanften Balladen mit religiösen Botschaften verquicken. Der britische Musiker aserbaidschanisch-iranischer Herkunft ist der erste Superstar des Islam-Pop. „Spiritique“ nennt er seinen Stil, in dem er nahöstliche Elemente mit westlichen Pop-Konfektionssmustern kombiniert.

Die Mehrheit der Musik, die in muslimisch geprägten Ländern gehört wird, ist strikt weltlich. Das Spektrum reicht von süßlichem Dangdut-Gamelan-Pop und Punkrock in Indonesien bis zu schwülstigem Bauchtanz-Beats und lärmendem Shaabi in Nordafrika, von kurdischer Protestsongs bis zu Preisliedern afrikanischer Griots, von wütendem Rap aus Bamako oder Gaza bis zu wummerndem Kommerz-Techno aus Beirut und Dubai.

Doch in den letzten Jahren haben auch immer mehr säkulare Musiker begonnen, das religiöse Erbe als Ressource für sich zu entdecken. Ob Techno-DJs wie Mercan Dede türkische Sufi-Weisen mit Elektrobeats verquirlen oder arabische Songwriter wie der Ägypter Mohamed Mounir, der Libanese Marcel Khalifé oder die Algerierin Souad Massi in ihren Songs auf islamische Motive zurückgreifen – sie alle wollen sich die Deutungshoheit über ihre Religion nicht von den Radikalen diktieren zu lassen.