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Kein Wort ist illegal

LITERATUR Mit „Der Wortschatzräuber“ veröffentlicht die Bremer Autorin und Rundfunkjournalistin Gülbahar Kültür nach langer Pause ein Buch mit eigener Prosa

„Bevor ich einen Text zu schreiben beginne, weiß ich noch nicht, in welcher Sprache“

Gülbahar Kültür

VON JENS LALOIRE

Als Gülbahar Kültür 1979 als 14-Jährige nach Bremen kam, sprach sie kein Wort Deutsch, während sie auf Türkisch bereits seit einigen Jahren Gedichte schrieb. Früh hatte sie sich fürs Schreiben begeistert, sich als junges Mädchen ein ledernes Notizbuch gekauft, in dem sie ihre ersten lyrischen Gehversuche festhielt. Nach Deutschland kam sie mit ihrer Familie, um ihren Vater zu besuchen, der hier arbeitete. Bloß ein paar Monate sollten es werden, dann wollten alle gemeinsam nach Istanbul zurückkehren, weshalb Kültür sich weigerte, Deutsch zu lernen. „Ich war darauf konzentriert, zurückzukehren“, erinnert sie sich. „Erst als ich nach drei Jahren begriffen habe, dass es keine Rückkehr geben wird, habe ich begonnen, systematisch Deutsch zu büffeln.“

Bis zu hundert Vokabeln am Tag habe sie auswendig gelernt, und irgendwann habe sie angefangen, auf Deutsch zu dichten. Mit Erfolg: 1987 erschien mit „Zwischen Schweigen und Reden“ ihr erster zweisprachiger Lyrikband. Es folgten zwei weitere Bände, eine Novelle, ein Märchen und kleinere Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Die letzte größere Publikation, die Novelle „Rudolf und Destina“, liegt indes schon über zehn Jahre zurück. Zuletzt, sagt Kültür, habe sie weniger geschrieben, da die Musik immer mehr den Raum eingenommen habe, den zuvor das Schreiben ausgefüllt hätte. Denn die Wahlbremerin ist nicht nur Autorin, sondern arbeitet seit gut 15 Jahren als Musikredakteurin beim Radio, hat etwa hundert Weltmusik-Kompilationen zusammengestellt und legt regelmäßig auf Partys auf. Der eine oder andere wird ihre Stimme kennen, von Sendungen wie „Café Mondial“, die Kültür bei Funkhaus Europa moderiert hat. Inzwischen agiert sie mehr im Hintergrund, wählt zwar immer noch die Musik aus, sitzt aber nicht mehr vor dem Mikrofon.

Sie selbst scheint das nicht zu vermissen, was schon ein wenig überrascht, wenn man die knapp 50-Jährige erlebt. Denn schüchtern ist sie wirklich nicht, offen und herzlich begrüßt sie den Gast bei sich zu Hause auf dem Peterswerder, es wird gleich geduzt, und viele Fragen muss man ihr auch nicht stellen, um sie zum Erzählen zu bringen.

Den Moderatorenjob vermisst sie anscheinend nicht. Sie habe eine gewisse Sättigung im Hinblick auf die Musik bei sich festgestellt und zudem Lust verspürt, sich wieder verstärkt dem Schreiben zuzuwenden. Vor knapp einem Jahr kramte sie zwei Manuskripte hervor, die seit über zehn Jahren auf der Festplatte ihres Computers geschlummert hatten, las sie erneut, befand sie im Großen und Ganzen für gut und begann sie zu überarbeiten. Das Ergebnis dieser Arbeit ist zum einen ein Roman über die Liebe zwischen zwei Frauen, der jüngst auf Türkisch in der Türkei erschien, zum anderen das Anfang Mai erschienene Märchen „Der Wortschatzräuber“, das sie auf Deutsch geschrieben hat.

Seit über 30 Jahren switcht die 1965 am Schwarzen Meer geborene Autorin zwischen Türkisch und Deutsch. „Bevor ich einen Text zu schreiben beginne, weiß ich noch nicht, in welcher Sprache,“ sagt sie, „da gibt es auch keine Logik, das hängt vom Thema oder meiner Stimmung ab.“ Türkisch ist ihre Muttersprache, doch eigentlich sei Sprache an sich ihre Heimat. Es ist ihr wichtig, das zu betonen, das Gerede über all das, was man gemeinhin einen „Migrationshintergrund“ nennt, langweilt sie ganz offensichtlich: „Mich nerven diese ganzen Kategorisierungen.“

Im „Wortschatzräuber“ wendet sich die studierte Germanistin und Kulturwissenschaftlerin der Frage zu, wo Xenophobie eigentlich beginnt. In dem Märchen erzählt sie vom Wortland, in dem der König Iktus die Fremdwörter aus der Landessprache zu verbannen versucht. Als wären diese Restriktionen nicht schon ärgerlich genug für die Dichter, beginnt darüber hinaus ein mysteriöser Wortschatzräuber den Poeten ihre schönsten Wörter zu klauen, was die Literatur des Landes nach und nach verarmen lässt. Kültür verweist mit ihrer Erzählung darauf, wie wichtig Vielfalt für den Reichtum einer Kultur ist. Statt alle Jahre wieder vor einer angeblichen Überfremdung der deutschen Sprache zu warnen, sollte man vielleicht endlich anerkennen, dass es ein normaler Prozess ist, wenn sogenannte Fremdwörter in eine Sprache eingehen, sie verändern und bereichern. Und das Gleiche gilt natürlich auch für die Menschen in einer Gesellschaft. „Vielleicht spielt es ja irgendwann keine Rolle mehr, wo Menschen oder ihre Vorfahren ursprünglich herkommen“, sagt Kültür, „das wäre doch mal ein Fortschritt.“

■ Mittwoch, 6. Mai, 20 Uhr, Café Ambiente; Samstag, 9. Mai, 20 Uhr, Arbeitnehmerkammer

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