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Der fliegende Russe

PHANTASTIK Im neuen Roman von Oleg Jurjew retten weder Nostalgie noch Utopie den Helden auf dem trunkenen Schiff: „Die russische Fracht“

Bis auf die Flucht vor der Petersburger Kriminalität ist in der Satire nichts verlässlich

Neue russische Literatur ist phantastische Literatur. Diese These lässt sich ohne große Mühen anhand zahlloser Neuerscheinungen der vergangenen Jahre belegen, von den Strugatski-Brüdern bis zu Wladimir Sorokin und etlichen seiner Generationsgenossen. Jetzt legt Oleg Jurjew, der seit 1991 in Frankfurt am Main lebt, einen neuen Roman vor, in dem er ein Geisterschiff auf Reisen schickt. „Die russische Fracht“ lautet der Titel, der genauso gut „Der fliegende Russe“ heißen könnte. Das Geisterschiff ist allerdings in erster Linie ein Narrenschiff, das phantastische Buch eine humorvolle und parodistische Parabel auf das hinterbliebene Chaos nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Der Ich-Erzähler Wenjamin Jasytschnik, kurz Wenka genannt, verficht eine Verschwörungstheorie. In seiner Doktorarbeit will er beweisen, dass St. Petersburg und die legendäre, an Atlantis erinnernde, weil ebenfalls untergegangene Stadt Vineta an der südlichen Ostseeküste ein und dasselbe sind. „Vineta“ heißt der Roman entsprechend im russischen Original. Da dem verwirrt orientierungslosen Helden aber Kriminelle nach dem Leben trachten, sieht er sich gezwungen, Petersburg zu verlassen und zwar auf einem ukrainischen Frachtschiff, der Atenov, die mit Kurs auf Lübeck in See sticht. Die Besatzung könnte skurriler nicht sein. Aus Lautsprechern tönt die Stimme des Kapitäns, eines Tenors, der, wenn er keine Anweisungen gibt, ihm Tee zu bringen, russische Lieder schmettert. Die Kapitänsbrücke hat er seit neun Jahren nicht verlassen. „Wenka, du gestreifter Hurenbock! Mensch Meier! Ist ja unvordenklich lang her!“, begrüßt ihn Ismael, ein vermeintlicher alter Klassenkamerad, der sich als Reiseveranstalter versteht und Touristen nach Hamburg übersetzt. Dort habe er „für sie das beste Theater gemietet, mit dem Elite-Musical ,Der Fliegende Holländer‘, nach Wagner.“ Auch die Fracht der Atenov ist nicht gerade alltäglich: Das Kühlschiff transportiert Leichen – Leichen, die Wenka nicht unbekannt sind und als Gespenster der Vergangenheit vor seinen Augen auferstehen. Der Roman entpuppt sich so als codierte Recherche nach Herkunft und Vergangenheit.

Das Schiff voller Narren ist aber auch ein trunkenes Schiff. Die Reise, die mitunter als Suche eines Romantikers nach der blauen Blume erscheint und sich im Endlosen verliert, beginnt nach einem schweren Wodka-Rausch. Insofern ist nie ganz klar, was wirklich passiert oder was Wenka nur halluziniert. Bis auf die Ausgangssituation, die Flucht vor der Petersburger Kriminalität, die bereits Wenkas Stiefvater, einem Schmuggler von als Zwergschafen getarnten Bologneserhündchen, das Leben kostete, ist in dieser Satire nichts verlässlich.

Der 1959 in Leningrad alias St. Petersburg geborene Lyriker, Dramatiker, Essayist und Prosaist Jurjew hat die Form dem Inhalt angepasst. In fragmentarische Passagen zerstückelt, besteht der Roman aus kurzen, filmischen Szenen und absurden, nur streckenweise linearen Zusammenhang ergebenden Bildern, zwischen denen auch Ausschnitte aus Wenkas Dissertation auftauchen. Der Leser schwimmt mit dem Protagonisten und sucht immer wieder vergeblich, jedoch nicht ohne Vergnügen, nach Halt zwischen den zahllosen popkulturellen Zitaten, historischen Andeutungen, Verweisen auf russische Mythen und philosophische Topoi, zu deren Entschlüsselung ein ganzes Glossar angelegt werden könnte. Das Chaos, dem Wenka in seiner Heimatstadt entfliehen möchte, setzt sich an Bord lebhaft fort. Weder Nostalgie, noch Utopie retten den Helden. „Sind wir bald in Lübeck“, ein leitmotivischer Satz, der sich auf Dauer anfühlt wie das Warten auf Godot, ist Ausdruck vergeblicher Hoffnung. Was bleibt, ist die Gegenwart, die hart ist, aber gerne auch mal schräg und häufig feuchtfröhlich. TOBIAS SCHWARTZ

■ Oleg Jurjew: „Die russische Fracht“. Aus dem Russischen von Elke Erb und Olga Martynova. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2009, 220 Seiten, 22,80 Euro

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