BARBARA BOLLWAHN LEUCHTEN DER MENSCHHEIT: Entführt und verschleppt
Kürzlich stellte der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen den jährlichen Bericht seiner Behörde vor. Danach richtet sich diese immer stärker auch an die nach der Wende geborene Generation. In der Stasiunterlagenbehörde gibt es eine wissenschaftliche Reihe, „Analysen und Dokumente“, deren Publikationen als Standardwerke gelten. Dazu gehören Dokumentationen über inoffizielle Mitarbeiter des MfS, Bundesbürger in der DDR-Spionage oder die historische Denunziationsforschung.
Jetzt ist Band 42 erschienen, „Auftrag: Menschenraub“, eine Publikation über Entführungen von Westberlinern und Bundesbürgern. Werner Großmann, ehemaliger Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, hatte Anfang der 1990er Jahre behauptet: „Es ist einfach unwahr, dass es in unserer Tätigkeit Entführungen, Anschläge und Morde gegeben hat.“ Später musste er einräumen, dass es bis Anfang der 1960er wenige Fälle von Entführungen durch das MfS gegeben habe. Während Entführungen zum Repertoire zahlreicher Geheimdienste weltweit gehören und eine systematische Untersuchung aufgrund unzugänglicher Akten nicht möglich ist, finden sich im Archiv des MfS zahlreiche Unterlagen.
Im Vergleich zur massenhaften Verfolgung politischer Gegner in der DDR riskierte das MfS verhältnismäßig selten diese geheimdienstliche Praxis. Keinesfalls waren es aber nur „wenige Fälle“: „Mehrere hundert Menschen aus West-Berlin und der Bundesrepublik wurden 1949 bis 1989 in die DDR verschleppt oder entführt.“ Wahrscheinlich wird sich die genaue Zahl nie klären lassen. Für eine „mikrohistorische Analyse“ wurden für die Studie 50 inoffizielle Mitarbeiter ausgewählt, die an Entführungen des MfS beteiligt waren. Die Studie schätzt, dass etwa 500 IMs zu diesem Zweck eingesetzt wurden. Das Verdienst der Publikation liegt schon allein darin, die Entführungs- und Verschleppungsfälle für spätere Generationen festzuhalten.
■ Barbara Bollwahn ist Schriftstellerin und lebt in Berlin
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