piwik no script img

Codewort Paranoia

Thomas Ostermeier inszeniert an der Schaubühne Berlin zwei neue britische Dramen

Parole: Paranoia. Wer dieses Codeworte kannte, bekam für die Generalprobe zweier neuer englischen Dramen, die an der Berliner Schaubühne an einem Abend aufgeführt werden, ermäßigten Eintritt. „Die Stadt“ von Martin Crimp und „Der Schnitt“ von Mark Ravenhill sind beide aus dem Stoff der Angst geschnitten, die mit der Furcht vor dem Verlust des Jobs beginnt und sich dann sehr schnell in finstere Fantasien der Auslöschung von Leben katapultiert. In Martin Crimps „Stadt“ haben kleine Mädchen Blut in ihren Manteltaschen; unheimliche Krankenschwestern gehen um, die von der Pulverisierung ganzer Städte und der Ermordung der Leute träumen, die sich in unterirdischen Kanalwelten „ans Leben klammern“. In Ravenhills „Schnitt“ nimmt man an der Krise des Operateurs Paul teil, der den Menschen nicht länger herausschneiden will, was sie mit ihrer Geschichte, ihrem Körper und ihrem Verlangen verbindet.

Der Schauplatz, an dem man von diesen Dingen erfährt, ist in beiden Stücken das Eigenheim eines Ehepaares. Das macht sie ebenso zu Kammerspielen wie die genaue Beobachtung der Angst, die sich in den Körper, die Lust, die Fähigkeit zur Beziehung einnistet. Daraus entstehen die stärksten Momente: In der „Stadt“ ist es der arbeitslos gewordene Ehemann, der sich ins Schreiben von Einkaufslisten flüchtet, während seine Frau darüber verzweifelt, das selbst ein Kuss zum problemgeladenen Akt geworden ist. Im „Schnitt“ ist es die Ehefrau, die sich Pauls Trauer über das Ende der körperlichen Intimität mit starrem Blick auf marktfrische Produkte vom Leibe zu halten sucht.

Kleinigkeiten sind das nur, aber sie lassen einen absolut nicht kalt in der exzellenten Inszenierung von Thomas Ostermeier und dem differenzierten Spiel von Thomas Bading und Judith Rosmair (Paul und seine Frau Susan), Jörg Hartmann und Bettina Hoppe (Christian und Clair in der „Stadt“). Allein weder den Autoren noch dem Theater ist diese große Nähe zu ihren Protagonisten genug; sie wollen noch die gesellschaftlichen oder systemischen Ursachen für diese Qual verhandeln, ohne sie aber historisch oder politisch benennen oder verorten zu können. Das ist der Schwachpunkt. Beide Dramen finden irgendwo im nicht greifbaren Raum statt.

Die Schaubühne versucht diesen Mangel aufzufangen und dem Diffusen Form zu verleihen. Zwischen den Bühnen für beide Stücke passiert man eine Videoinstallation von Julian Rosefeldt, der den Raum der Angst mit ganz anderen, monumentalen Bildern füllt. Sie sind an realen Orten aufgenommen und folgen doch der Dramaturgie des Science-Fiction, in der ein einsamer Held in einer von Maschinen beherrschten Welt ausgesetzt ist: gigantische Tunnelsysteme, Schaltzentralen, endlose Flure, Kathedralen aus Beton und ein Schnittrhythmus, der den Weg durch diese Architekturen wie den des letzten Menschen auf der Erde erscheinen lässt. Damit ist die Stimmung der Paranoia schon gut grundiert. Selbst die Bühnentechnik, die hier alle Register zieht und große Wände für beide Stücke auf- und niederfahren lässt, bekommt plötzlich etwas von einem Raumschiff.

Die Bühnen bilden in dieser Landschaft so etwas wie kleine, bewohnte Inseln im großen leeren Raum. Ihr reduziertes Design passt gut zur Sparsamkeit der Bewegungen auf der Bühne. In „Der Schnitt“ sieht man meist nur zwei Leute, die sich gegenübersitzen. Erst den Operateur Paul und einen Kunden, der um den Eingriff bettelt, weil er sich selbst nicht mehr erträgt. Dann Paul und Susan, deren Not auch darum kreist, nie über seine Arbeit reden zu können. Schließlich den Operateur mit seinem Sohn, getrennt durch eine Glasscheibe, die das Gespräch ins Gefängnis verlagert: Jetzt ist Paul als höchster Vertreter des alten Systems, das er nicht mehr wollte, der Gefangene von denen, die ausführten, was er nur dachte. Dieser starre Zuschnitt der Konstellationen erhöht das beklemmende Gefühl, einer nur noch von Verboten regulierten Gesellschaft zuzuschauen. Und: Es ist erstaunlich spannendes Theater.

So bleibt am Ende der zwiespältiger Eindruck einer absolut perfekt ausgeführten Kunst beigewohnt zu haben, der man den Mangel an Erklärung, warum und wozu dieser ganze Aufwand, gerne verzeiht.

KATRIN BETTINA MÜLLER

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen