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Die Freunde, die waren

Was lässt sich über einen Menschen erfahren, wenn man nur von den Freundschaften erfährt, die dieser Mensch führte? Diese Frage behandelt die Hamburger Künstlerin Claire Lenkova – und gibt eine Antwort mit ihrem Kunstbuch „Alle meine Freunde“

Der erste Impuls ist: Weglegen. Was für ein Blödsinn. „Alle meine Freunde“ heißt dieses Buch der Hamburger Zeichnerin Claire Lenkova, vorn drauf sind lauter kleine Zeichnungen von Leuten, die wie Lenkova zwischen 20 und 30 Jahren alt sind und in ein für sie charakteristisches Setting drapiert wurden. Hinter dem Deckblatt befindet sich dann zum Herausnehmen ein Poster, beidseitig bedruckt, eine Seite für die männlichen, die andere für die weiblichen Freunde. Beide Seiten sind jeweils als Tabelle gestaltet, in der die Freunde in Kategorien wie „Freundschaftsatmosphäre“ oder „verlorene Zeit“ mit Punkten bewertet werden. Es ist ein schneller, technischer Einblick in den Freundeskreis der Buchautorin, ein Einblick, der einem sofort unsympathisch ist: Freundschaften, hier nach Effizienzkriterien erfasst.

Nachdem also zum Beispiel Doreen in der Kategorie „Freundschaftsatmosphäre“ zweimal das Attribut „verknotet“ bekommt, ist die Geschichte bei den Jungs noch eine ganz andere. Hier werden „gegebene“ und „empfangene“ Liebe gegeneinander aufgerechnet und einen Gewinn bei der „Liebesdifferenz“ gibt es nur bei Jens. Das Bild zeigt ihn, wie er auf dem Fußballplatz steht, mit Prinz-Eisenherz-Frisur und intensiv gemusterten Pulli. Jens sieht aus wie ein pubertierender Teenie in den 1980ern. Sexuellen Kontakt, sagt die Liste, hatte die Autorin damals nicht mit ihm.

Das Poster ist das Intro zum Buch, das aus kindlich naiv gestalteten Karteikarten besteht, für jeden Freund eine. Auf jeder Karteikarte gibt es Kategorien wie in jenen „Freundschaftsbüchern“, in denen die Klassenkameraden Hobbys, Lieblingssong und Lieblingssportart eintragen können. Nur dass die Kategorien in Lenkovas Karteikartensammlung zum Beispiel „Dialekt“, „Geruch“, „behaltener Satz“ und „Trennungsgrund“ heißen. Die Kategorien variieren leicht, nur eine Kategorie gibt es auf jeder Karteikarte: Den „Trennungsgrund“. Es geht durchweg um Freundschaften, die vorbei sind.

Man erfährt, dass Albin nach „frischem und nach altem Schweiß“ roch und mit der Autorin seine Sado-Maso-Fantasien ausleben wollte; oder dass Doreen sächsisch sprach und die Freundschaft kaputt ging, weil sie sich „immer mehr zu Hause bei ihren komischen Eltern verkroch“. Oder dass Otmar zu der Gattung der Förderer zählte und die Autorin von ihm den Satz behielt: „Das machmer scho’!“

Das alles steht da in Schönschrift mit Tinte geschrieben, kindlich, um maximale Ehrlichkeit zu evozieren. Seite für Seite ergibt sich das Mosaik einer Biografie, in der die Freundschaften mitunter gruselig waren, aber nicht nur. Und Seite für Seite drängt sich mehr die Frage auf, wer sich da eigentlich mitteilt über die Karteikarten. Und was davon Wahrheit ist und was Fiktion.

„Diese Arbeit ist fiktional und wirft lediglich ein schlechtes Licht auf die Autorin“, schreibt Claire Lenkova. Einerseits stimmt das: „Alle meine Freunde“ dreht sich nicht um die Freunde, sondern um die Autorin. Aber schlecht oder vielmehr schlicht könnte man nur finden, dass Lenkova in ihrer Arbeit nicht gerade sparsam auf die Anziehungskraft von Sex und Voyeurismus setzt. Und auf die Parallelen zu ihrer eigenen Biografie: Da gibt es beispielsweise eine Karteikarte für den „Gebissmann“, der beim Essen immer sein Gebiss rausnahm und ein „Begleitservicenutzer“ ist – Begleitservice ist ein Job, den Lenkova nach eigenem Bekunden auch selbst gemacht hat.

Überhaupt ist Claire Lenkova eine Zeichnerin, die gern von sich erzählt: Dass sie in Zwickau geboren wurde und als Kind noch vor dem Fall der Mauer nach Oberfranken emigrierte, dass sie an der HAW Hamburg Illustration studierte und ihre Familie arm und mittlerweile zerbrochen ist – das alles springt einem auf der Website sofort ins Auge, ebenso wie die Fotogalerie, in der auch der Ausflug mit Freunden ins Alte Land nicht fehlt. Lenkova ist ferner unter anderem Mitinitiatorin der Hamburger Künstlerinnengruppe Spring, die seit 2004 jährlich einen Sammelband veröffentlicht. In der Presse steht immer, Lenkova sei „Illustratorin, Comiczeichnerin und Künstlerin“. Das Buch „Alle meine Freunde“ passt eindeutig am besten in die Kategorie Kunst, Gattung: versiert, Dialekt: befremdlich. KLAUS IRLER

Claire Lenkova: „Alle meine Freunde“. Kunstmann, München 2008, 16 Euro

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