: „Wie du auszusehen hast“
Die Hamburger Band Kettcar richtet auf ihrem neuen Album „Sylt“ den Blick nach außen. Kettcar-Sänger Marcus Wiebusch über die Generation der 30- bis 40-Jährigen, das Problem mit den Utopien und Leute, die wieder zu ihren Eltern zurückziehen
MARCUS WIEBUSCH, 39, war bis 1999 Sänger und Gittarist der Punkband …But Alive. 2001 gründete er mit Bassist Reimer Bustorff die Band Kettcar. Er ist außerdem Mitbegrün des Labels Grand Hotel van Cleef.
INTERVIEW: KLAUS IRLER
taz: Herr Wiebusch, Sie sind 39 und schreiben die meisten der Texte bei Kettcar. Was ist interessant an der Generation der 30- bis 40-Jährigen?
Marcus Wiebusch: Dasselbe, was an den 20- bis 30-Jährigen interessant ist. Ich finde, was uns alle auszeichnet, ist ein Gefühl der Zerrissenheit. Das ergibt sich zum Beispiel daher, dass man keine Utopien mehr formulieren kann. Du kannst dich nicht mehr hinstellen und sagen: Unser gesellschaftliches Zusammenleben könnte so oder so aussehen. Weil du das nicht kannst und sich deine politischen Forderungen oft in der Schwebe halten müssen, ergibt sich ein Gefühl der Zerrissenheit. Dieses Gefühl zu transportieren, war ein Ansatz unserer neuen Platte, zum Beispiel bei dem Song „Es gibt kein Außen mehr.“
Wenn es kein Außen mehr gibt, was gibt es stattdessen? Mehr Introspektion?
Nein, das neue Album zeichnet sich gerade dadurch aus, dass wir den Blick nach außen richten. Wir verhandeln Themen, die um uns rumschwirren und betten sie ein in eine realitätsnahe, manchmal sehr düstere Lyrik. Bei dem Song „Würde“ zum Beispiel zieht der Typ zu seinen Eltern zurück, weil er den Anforderungen nicht gewachsen ist – das ist für mich das absolute Aufgeben. Oder in „Graceland“ geht es um das gesellschaftliche Phänomen, dass die 35- bis 45-Jährigen nicht mehr älter werden, sondern sich wie 25-Jährige aufführen. Da bin ich selber ein Teil davon. Und das spiegelt eine gewisse Zerrissenheit wieder, weil es sich ja für den einzelnen richtig anfühlt, sich jugendlich zu geben – es geht ja auch d‘accord mit den Flexibilisierungsanforderungen, die an jeden von uns gestellt werden.
Der Befund, dass Utopien nicht mehr funktionieren, ist schon ein bisschen älter. Lernen die Menschen nichts dazu?
Doch. Aber wie du leben willst und wo du selber stehst und was für Ideale du hast und wie du die in deine Arbeitswelt rüberrettest oder nicht – das ist alles zunehmend schwerer unter einen Hut zu kriegen.
Aber gibt es nicht einfach nur eine größere Freiheit bei der Gestaltung des eigenen Lebens?
Ja, aber offensichtlich ist es sehr schwierig, mit dieser Freiheit umzugehen. Je mehr du funktionieren musst, je mehr Anforderung an dich gestellt werden und je flexibler du sein musst, desto mehr neigen Menschen dazu, zusammenzubrechen. Das hat nicht nur mit der Arbeitswelt zu tun, sondern mit ganz allgemeinen Anforderungen: wie du auszusehen hast, was du mit deinem Körper zu tun hast, wie du dich zu verhalten hast.
Was unterscheidet das neue Album von den vorhergehenden?
Musikalisch haben wir einen krachigeren, robusteren Sound auf dieser Platte. Wir wollen, dass die Musik kling wie live, als ob da fünf Leute im Raum stehen. Von den Themen her war klar, dass wir ein Album schreiben wollten, das deutlich zeigt, dass wir nicht einverstanden sind.
Warum mag das Publikum Kettcar?
Fakt ist, dass wir mit der neuen Platte mehr fordern von unserem Publikum. In der Vergangenheit ist es so gewesen, dass wir Identifikation angeboten haben. Das ist der Schlüssel zum Erfolg für ganz viele Bands.
Und wie ist es jetzt?
Für die Veröffentlichung ihres ersten Albums fand die Hamburger Band Kettcar kein Label – deswegen gründeten die Kettcar-Musiker Reimer Bustorff und Marcus Wiebusch zusammen mit Thees Uhlmann von der Band Tomte die Plattenfirma Grand Hotel van Cleef. Im Oktober 2002 erschien das erste Kettcar-Album „Du und wie viel von deinen Freunden“. Das zweite Album „Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen“ folgte 2005, stieg auf Platz fünf der deutschen Albumcharts ein und wurde auch in den Tagesthemen vorgestellt. Außerdem schrieben Hotel van Cleef-Musiker die Songs für den Film „Keine Lieder über Liebe“ und organisieren das Festival Fest van Cleef. Bei der Plattenfirma arbeiten derzeit sechs Leute. KLI
Ich glaube, dass es unser Publikum sehr schätzt, dass wir Songs schreiben, in denen nicht alles Scheiße ist. Auch wenn ich viele düstere Themen habe auf dem neuen Album, bin ich immer noch weit davon entfernt zu sagen: Hat ja alles keinen Zweck, lass uns uns umbringen. Ich will eher fragen: Warum ist das so? Das neue Album ist eine bewusste Abkehr von unseren ersten beiden Alben, die man so interpretiert, dass man sagt: Am Ende wird doch wieder alles gut. Liebe löst alles. Ob das Publikum das goutiert, wird sich zeigen.
Ihr spielt kommende Woche acht Konzerte auf kleinen Bühnen in Hamburg, jedes Konzert ist woanders, und alle sind ausverkauft. Warum nicht einfach ein Konzert oder auch zwei in der Color Line Arena?
Das ist nicht unser Style. Wir hatten auch eine Zeit lang Muffe vor zu großen Bühnen auf Festivals. Und Hamburg ist speziell für uns: Hier werden wir in den Medien ganz anders wahrgenommen als in Berlin oder Köln. Deswegen haben wir mehr Fans in Hamburg und haben uns diese Option ausgedacht.
Ihr veröffentlich eure Platten in Eigenregie auf dem Label Grand Hotel van Cleef. Muss sich die Struktur ändern, wenn ihr weiter wachst?
Vielleicht. Wir gehen jetzt schon an die äußerste Kapazitätsgrenze. Aber in Zeiten einer hammerharten Musikindustrie-Krise kann ich mir so Träumereien wie Wachstum nicht vorstellen. Wir haben ja auf die Krise insofern reagiert, als dass wir unsere Konzerte jetzt auch selber buchen – nicht nur die Platte selber rausbringen. Weil wir festgestellt haben, dass der Live-Markt auch funktioniert wie eine Eins.
Das Album „Sylt“ erscheint am 18. 4. Die acht Konzerte in Hamburg sind ausverkauft. Weitere Termine: 30. 4. Rostock, Man Club; 3. 5. Osnabrück, Hyde Park; 4. 5. Braunschweig, Jolly Joker; 20. 6. Scheesel, Hurricane Festival
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