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Nachts an der Ausfallstraße

Verlassene Häuser, verschwundene Heimat: Die Ausstellung „Gute Aussichten“ im Martin-Gropius-Bau stellt zehn Absolventen des Fotografiestudiums vor

Eines fällt auf bei der vierten Ausgabe der AbsolventInnen-Ausstellung „Gute Aussichten – Junge deutsche Fotografie“: Fotografie ist hier mehr denn je Mittel zum Zweck. Fast jede Gattung kann sie umfassen, Dokumentation und Illustration, Installation, Fotojournalismus und Bildgeschichte. Die zehn Positionen fotografischer Abschlussarbeiten deutscher Hochschulen und Akademien stellen kaum mehr das Medium selbst zur Disposition. So verwundert es, dass keine Künstler dabei sind, die sich dezidiert mit digitaler Fotografie und der Bildbearbeitung am Computer auseinandersetzten.

Für Josefine Raab, die Gründerin der Initiative, ist das aber keine Überraschung. Schließlich hätten sich Künstler und Fotografen jahrelang an der Diskussion um analog vs. digital abgearbeitet, nun sei das Thema in den Hintergrund gerückt. Stattdessen nimmt sie eine verstärkte Hinwendung zu sozialen und gesellschaftlichen Fragen wahr.

Offenbar lassen sich diese Aspekte mit einer konservativen Bildsprache am ehesten darstellen. So forscht Andrej Krementschouk seiner schwindenden Heimat Russland nach. Russland sieht der Absolvent der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften in den drei Dörfern, in denen er groß wurde beziehungsweise in denen noch seine Familie lebt. „An deinem Haus“ ist persönlich, melancholisch, traurig, aber auch sehnsüchtig. Caterina Micksch, die am Berliner Lette-Verein studiert hat, geht in ihrer Fotoserie „Gretchen“ einem konzeptuelleren Ansatz nach. Fassungslos recherchierte sie Fälle von Neonatiziden, dem forensischen Ausdruck für die Tötung des eigenen Kindes nach der Geburt. In den Fotos stellt sie Orte nach, an denen im Jahr 2006 Babyleichen aufgefunden wurden: Wegesränder und Waldlichtungen, Müllkippen und Heizungskeller.

Im Restlicht des Tages

Margret Hoppe von der HGB Leipzig hat sich dem beliebten Motiv verlassener, heruntergekommener Häuser angenommen. Neben dem redundanten Charme herabhängender Deckenverkleidung und abgebröckeltem Putz finden sich in den Räumen die kaum noch wahrnehmbaren Spuren von Kunst der ehemaligen DDR: übermalte Gerhard Richters und zerstörte Werner Tübkes.

Agata Madejska wechselte von Kunstgeschichte zum Studium der Fotografie an der Universität Duisburg-Essen. Für die Serie „Kosmos“ nutzte sie das Restlicht des Tages, um die Konturen und Oberflächen ihrer Objekte herauszuarbeiten. Abstrakt leuchten die Edelstahlformen aus dem bläulichen Schwarz der Umgebung und lassen die Farbfotos fast monochrom werden. Mit sich und dem Beruf den Fotografen hadert noch Christian Tiefensee. Seine Arbeit „Refugium“ empfindet er als „fotografischen Befreiungsschlag“ aus den Konventionen, die er sich als gelernter Fotograf selbst auferlegt hat, nämlich präzise zu sein und schöne Bilder zu machen. Um ein zentrales Diptychon eines Paars, das wie Adam und Eva des Wattenmeers posiert, gruppiert er gefundene und selbst produzierte Aufnahmen zu einer immer wieder veränderbaren Fotoinstallation der Unschärfen, Fehler und Ungenauigkeiten.

Avantgardistisch ist das alles nicht. Aber die Diplomanden stehen ja meist erst vor der Entscheidung, in welche Richtung sie nach der Ausbildung gehen wollen. Die in sich stimmigste und überzeugendste Arbeit hat Jon Adrie Hoekstra mit seiner Abschlussarbeit an der FH Münster abgeliefert. Für zwei Monate mietete er sich als „Nachtrecorder“ in einem Ladenlokal auf einer Ausfallstraße ein. Was dort nachts passierte, hat er zunächst notiert, fotografiert und auf Video aufgenommen und danach den Anwohnern und Passanten dort als Ausstellung präsentiert. Sein dokumentarisches Schwarzweiß zeigt die ganze motivische Bandbreite: Street Photography, Porträt, Sozialreportage und Schnappschuss – jounalistisch aufbereitet in einer Zeitung und als Netzessay auf www.nachtrecorder.de.

MARCUS WOELLER

„Gute Aussichten – Junge deutsche Fotografie“. Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, Mittwoch–Montag 10– 20 Uhr, bis zum 14. Juni www.gropiusbau.de

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