: Treibhaus und Kühltruhe
Banditen, der Teufel und der Existenzialismus: Das alles bringt der große brasilianische Roman „Grande Sertão: Veredas“ zusammen. Auf ihm basiert ein Theaterstück, das zum Festival „Brasil em cena“ ins HAU eingeladen ist
Der Sertão ist das semiaride, schwer zugängliche Hochland, das sich im Nordosten Brasiliens abseits der Küste als Einöde über den Bundesstaat Minas Gerais erstreckt. Für die kulturellen Identitäten der Brasilianer hat dieser von Trockenheit und Dürre bestimmte Landstrich weit größere Bedeutung als der Atlantik, an dem die meisten von ihnen leben. „Mangel ist das wichtigste Wort, das im Zusammenhang mit dem Sertão fällt“, erklärt der brasilianische Regisseur und Schauspieler Cacá Carvalho.
„Mangel an Gesundheitswesen, an Bildungseinrichtungen, an einer effizienten Wirtschaft und an Investionen, um das große Dürreproblem zu lösen. Auf der anderen Seite ist die Gegend von großem Reichtum geprägt, der sich in der Kultur und in den sozialen Beziehungen niederschlägt.“ Mit Schauspielschülern des kleinen Theaters Casa Laboratório in São Paulo hat Carvalho „O Homém Provisório“ („Der provisorische Mensch“) nach dem Roman „Grande Sertão: Veredas“ inszeniert und tritt damit beim Festival „Brasil em Cena II“ im HAU auf.
Der Roman von João Guimarães Rosa (veröffentlicht 1953) gilt als wichtigstes Werk der brasilianischen Moderne. Er übersetzt die Naturerfahrung und die Sprache, die die Bewohner des Sertão für ihre Heimat gefunden haben, in einen nicht enden wollenden Strom aus fantastischen Erlebnissen und misst sie an den großen Themen des Existenzialismus.
„Hat nichts auf sich“, sind die ersten Worte des Romans, der dann in seinem Verlauf versucht, dieses Nichts zu überwinden: Veredas sind nicht nur die Pfade im Unterholz, sondern auch Wege durch die brasilianische Kultur. Der Überlebenskampf ist im Sertão ein Kampf des Menschen gegen die Menschenfeindlichkeit der Natur, in „Grande Sertão“ ist er auch ein Kampf mit der Sprache, der im Hinterland des Geistes geführt wird.
„João Guimarães Rosa“, sagt Carvalho, „hat den Sertão damit als poetischen Ort erschaffen, in dem jeder auf sich selbst trifft und sowohl das Dunkle als auch das Helle zum Vorschein kommen, wo die Leere auch gleichzeitig das Volle bedeuten kann. Der Sertão ist ein Schlüssel zur Selbsterkenntnis, der Beweis, dass unser das Leben unvollendet ist.“
In Guimarães-Rosas Roman erzählt der alte Farmer Riobaldo retrospektiv von seinem Dasein als „Jagunço“, der für wechselnde Auftraggeber kämpft und das Böse in Gestalt des Teufels trifft. Es ist nicht nur eine Lebensbeichte eines alternden Banditen. Dieser Mensch hat höchst widersprüchliche Anteile eines skeptischen gläubigen Christen, einer afrikanischen Regengottheit und von Thomas Manns Figur „Doktor Faustus“ in sich. Cacá Carvalho definiert die Gestalt des Jagunço als intuitiven Kämpfer, der sich kopfüber ins Abenteuer stürzt, aber zu keiner Reflexion fähig ist. „Wir haben alle zwei Verhaltensmerkmale eines Vogels, der hackt und beobachtet. Der Jagunço hat sich fürs Hacken entschieden. Auch wir sind Jagunçoes, wenn wir den Alltag so sehr verinnerlicht haben, dass wir keinen Platz mehr haben, um uns weiterzuentwickeln. Deshalb, um Guimarães Rosa zu zitieren, ist der Sertão überall. In Brasilien und in Berlin.“
In Berlin ist eine 57-minütige Inszenierung zu sehen, die den 700-seitigen Roman in ein packendes Körperdrama ausgearbeitet hat. Es gibt keine Atempausen. Wenn im Roman Riobaldo schweigt und abwartet, zeigt Carvalho einen Protagonisten, dessen Innenleben auf der Stelle zu treten scheint, der aber äußerlich nicht stillhalten kann und immer weitermachen muss. Die Schauspieler stellen Szenen aus Riobaldos Leben bis in die Fingerspitzen elektrisiert dar. Carvalho nennt das „reaktives Übersetzen“. Er hat das Geschehen verdichtet und verschlankt das Setting, indem er die Schauspieler ständig zwischen Riobaldos Horizont und dem weiten Horizont des Sertão hin- und herspringen lässt, wie ein Wechsel vom Zoom zur Panoramaaufnahme in einem Film.
Mit einer Choreografie, die an die Geometrie asiatischer Schwertkampffilme erinnert, taumeln und tanzen, gestikulieren und sprechen die Schauspieler, bewegen sich im Schwarm vorwärts. Das Bühnenbild ist minimalistisch: Ein durchsichtiger Vorhang teilt das Geschehen auf, er symbolisiert den Nebel, der über dem Sertão hängt wie eine Bettdecke. Der Klang der Sprache ist ein weiteres Element: Brasilianisches Portugiesisch, so beschrieb es der Philosoph Villem Flusser einmal, ist gleichzeitig Treibhaus und Kühltruhe. „Kommt mir ein Wort, ist’s schon kalt, leer, schal“, brodelt es aus Riobaldo. JULIAN WEBER
„Der provisorische Mensch“. HAU 2, 28. + 29. Mai, 20 Uhr. Infos zu Brasil em Cena www.hebbel-am-ufer.de
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