: „Ich lebe eben in dieser Scheiße“
Die Republik Moldau wurde 1991 gegründet und leidet heute an einer ausgewachsenen Identitätskrise. Das findet die junge, umstrittene Autorin Nicoleta Esinencu, deren neue Arbeit „ md“ beim „Moldova Camping“-Festival im HAU zu sehen ist
Nicoleta Esinencu, geboren 1978 in Chișinău, schreibt Theaterstücke und zählt zu den umstrittensten AutorInnen Moldaus. Vor drei Jahren führte ihre Arbeit „FUCK YOU, Eu.ro.pa“ zu einer politischen Kontroverse in Moldau und Rumänien FOTO: AMÉLIE LOSIER
INTERVIEW INES KAPPERT
taz: Frau Esinencu, Sie sind gerade mal 30 Jahre alt. Spätestens seitdem Ihr Stück „Fuck you, Eu.ro.Pa!“ zu einem Skandal geführt hat, zählen Sie zu den umstrittensten Schriftstellerinnen in Moldau und auch in Rumänien. Werden Ihre Stücke noch aufgeführt?
Nicoleta Esinencu: Nein. Mittlerweile kann ich nur noch im Ausland arbeiten. Bei uns muss man für die kleinste Sache jemanden kennen, und es gibt immer Probleme. Ich habe aufgehört, mich darüber aufzuregen.
Ihre Texte leben von der Wut gegen den alltäglichen Sexismus, und ebenso gnadenlos zeichnen Sie den Nationalismus Ihrer Landsleute nach. Wie lang wird Ihr Hass noch reichen?
Das ist nicht mein Hass. Ich lebe eben in dieser Scheiße.
Ihre Texte wimmeln nur so von Wörtern wie „Fotze“, „Hure“, „Neger“, „Araber“.
Vergessen Sie „ficken“ nicht.
Stimmt. Warum dieser inflationäre Gebrauch von Vulgarismen und Schimpfwörtern?
Der Alltag in Moldau ist enorm brutalisiert – wenn ich ihn eins zu eins abbilden würde, müsste ich noch viel gröber werden. Wir haben eine riesige Krise der Identität, und wir sind das ärmste Land Europas. Da braucht man äußere Feinde: Deutsche, Amerikaner, Araber. Oder man beschimpft Frauen.
Worin besteht die Identitätskrise?
Ich versteh’s ja selber nicht. Also historisch gesehen, gehörte Moldau zunächst zu Rumänien. Dann wurde es Teil der Sowjetunion und seit 1991 ist eine unabhängige Republik. Während der Annektierung durch die Sowjetunion kam es zu einer starken Russifizierung. Russisch wurde zur Amtssprache, aber etwa 70 Prozent sprechen bis heute Rumänisch. Moldau war ursprünglich eine Erfindung der Russen. Aber weil das ja schon eine Zeit zurückliegt, glauben heute viele, sie seien Moldauer. Die meisten aber sind am Morgen Moldauer, am Mittag Rumänen und am Abend Russen.
Das hört sich doch recht entspannt an.
Es könnte entspannt sein, wenn die Gesellschaft modern wäre. Aber in einer von Kommunisten regierten postkommunistischen Gesellschaft versucht nur jeder, irgendwas für sich rausschlagen.
Also ist die Regierung das Problem?
Auch. Zunächst mal gibt es den eingefleischten Hass der Rumänen gegen die Russen und der Russen gegen die Rumänen. Hinzu kommt, dass unsere Regierung zwar offiziell kommunistisch ist. Aber sie ist gleichzeitig auch kapitalistisch und proeuropäisch. Sie ist also eine wilde Mischung, aber vor allem ist sie monopolistisch – und korrupt.
Sie sind 1978 geboren. Der Zusammenbruch der Sowjetunion fiel damit in Ihre späte Kindheit. Welche Veränderung war für Sie die einschneidendste?
Eigentlich beginne ich erst jetzt zu begreifen, was da passiert ist. Selbst heute spürt man ja kaum Veränderungen, auch wenn es natürlich viele neue Gebäude, Läden und Boutiquen in unserer Hauptstadt Chišinău gibt. Und auch überall McDonald’s. Aber die Leute denken nicht anders als früher. In ihren Köpfen lebt noch immer die Sowjetunion; auch wenn sie heute hinter einer McDonald’s-Fassade leben.
Rührt daher die Brutalität? Dass man sich den Veränderungen nicht anpassen kann oder will?
Vielleicht. Vor allem aber begreifen die meisten Demokratie als die Freiheit, machen zu können, was sie wollen. Ein Jahr Gefängnis kostet 1.000 Euro – dann muss man nicht einsitzen. Jeder kennt die Tarife. Das war zu Zeiten der Sowjetunion anders – oder wenigstens besser kaschiert.
Einer Ihrer Landsleute, der Künstler Pavel Braila, hat einmal in einem Interview gesagt: Ich hab’s so satt, dass im Westen keiner meine Heimat kennt und ich auch behaupten könnte, ich käme vom Mond. Machen Sie ähnliche Erfahrungen?
Überhaupt nicht. Wo hat er diese Erfahrungen denn gemacht?
In Berlin.
Seltsam. Und selbst wenn Leute nicht wissen, dass es ein Land namens Moldau gibt: Mir ist das total egal. Für mich existiert Moldau ja auch nicht.
Vom 17. bis zum 18. Juni findet im HAU das Festival Moldova Camping statt; eingeladen sind Künstler und Intellektuelle aus Moldau und Berlin. Unter anderem wird die Textcollage von Nicoleta Esinencu „ md“ präsentiert. Auch Pavel Braila ist mit einer Performance vertreten: „Tent Event“. In Berlin war der Performer und bildende Künstler zuletzt in der Neuen Nationalgalerie mit der Video-Arbeit „Baron’s Hill“ zu sehen. Tanja Dückers hat gemeinsam mit Esinencu ihre Reiseeindrücke zu einer Szenischen Lesung verarbeitet: „Grüße aus Transnistrien.“ Das Gesamtprogramm findet sich unter www.hebbel-am-ufer.de
Sie sagen, der Sexismus in Moldau ist enorm. Gleichzeitig sind es vor allem die Frauen, die im Ausland, häufig in Italien, Geld verdienen und damit ihre Familien ernähren. Stärkt das nicht ihr Selbstbewusstsein?
Nein. Die Frauen schicken ihr ganzes Geld nach Hause. Das Problem ist, dass die meisten im Ausland kaum Kontakt zu anderen aufnehmen, sondern sehr viel arbeiten und unter sich bleiben. Ihr einziges Ziel ist es, das Geld für ihre Kinder oder ein eigenes Haus in der Heimat zu verdienen.
Wie sieht es denn bei Ihren Freunden aus? Bei den Intellektuellen? Gibt es da auch keine Ansätze für eine andere Offenheit?
Schwer zu sagen. Viele Intellektuelle sind emigriert und leben heute in Rumänien.
Ihr Vater, Nicolae Esinencu, war zu Sowjetzeiten ein berühmter moldauischer Schriftsteller. Was hält er davon, dass Sie zu den schärfsten KritikerInnen Ihres Landes zählen?
Er war selbst immer das „enfant terrible“. Ich glaube, manchmal ist er ein wenig eifersüchtig auf mich.
Was wird in den – sagen wir – nächsten fünf Jahren passieren?
Nichts. Einen Krieg (gegen Transnistrien, Anm. d. R.) hatten wir ja schon. Nur die Dummheiten und die Gewalt werden weiter zunehmen.
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