piwik no script img

Archiv-Artikel

Ausdauernde Erinnerungsarbeit

Mal eskapistisch, mal konfrontativ: Das Zeughaus-Kino widmet dem Filmproduzenten Artur Brauner eine Retrospektive

VON ULRICH GUTMAIR

Unter Trommelwirbel rast die Kamera an Gesichtern, gestreifter Häftlingskleidung und schäbigen Pantoffeln vorbei. Abrupt endet ihre Fahrt auf einem deutschen Schäferhund zu Füßen eines SS-Manns. Er bewacht die Selektion in Arbeitsfähige und Arbeitsunfähige, die der Lagerarzt Leon Bronek auf dem Appellplatz vornimmt. Er stuft willkürlich einzelne Häftlinge, noch dazu besonders kräftige Männer, als arbeitsunfähig ein. So erscheint er dem Zuschauer als perfider Scherge der Nazis. Doch bald zeigt sich: Er ist es nicht.

Mit dieser Szene beginnt der von Artur Brauner 1947/48 produzierte Spielfilm „Morituri“. Sie spielt mit der Erwartungshaltung des Zuschauers, als sei das Motiv von Appell und Selektion längst eingeführt und bekannt. Dabei war „Morituri“ der erste deutsche Spielfilm, der vom Konzentrationslager handelte, und er blieb es lange Zeit. Alte Nazis störten Aufführungen und trieben so den Film aus den Kinos, sagt Brauner heute.

Damals war „Morituri“ ein Flop, heute ist er ein vergessener Film. Weder ist er in Deutschland im Verleih, noch existieren VHS-Kopien oder DVDs, die man kaufen oder ausleihen kann. Das gilt auch für einige andere Filme, die ab Mittwoch in einer Reihe mit Artur-Brauner-Produktionen im Zeughauskino zu sehen sein werden. Seine Central Cinema Compagnie GmbH, kurz CCC, hatte ihre große Zeit in den Fünfzigern und frühen Sechzigern. In ihren Spandauer Studios wurde seichte Massenware produziert, die ihren Beitrag zum Eskapismus der Wirtschaftswunderzeit leistete. Die Serie im Zeughaus tritt nun aber anlässlich des 90. Geburtstags des Produzenten den Nachweis an, dass seine Firma auch künstlerisch wertvolle und einflussreiche Filme produzierte. Unter Brauners Ägide schuf etwa Fritz Lang sein lange geschmähtes Spätwerk, darunter „Die 1000 Augen des Dr. Mabuse“, in dem er 1960 den Schein filmischer Inszenierung analysierte. Der Blick und die blinden Flecken der Erinnerung stehen auch im Zentrum von Dario Argentos Filmdebüt, dem Horrorklassiker „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“ von 1969. Zwei Jahre später brachte die CCC einen Katastrophenfilm des heute verehrten Trashmeisters Jess Franco heraus.

Einen deutlichen Akzent setzt die Reihe mit Filmen, mit denen Brauner über die Jahrzehnte hinweg Erinnerungsarbeit leistete. Seit „Morituri“ hat Brauner 20 weitere Filme zum Thema drehen lassen, um, wie er sagt, „schwarze Löcher“ im kollektiven Gedächtnis auszuleuchten. „Zeugin aus der Hölle“ von 1965/67 handelt vor dem Hintergrund des Frankfurter Auschwitz-Prozesses von einer ehemaligen Gefangenen des Frauen-KZ Struthof, die perfiden Experimenten zum Opfer fiel. Der Film gab dem bis dahin wenig beachteten Umstand Ausdruck, dass Trauma und Angst die Überlebenden noch 20 Jahre nach Kriegsende quälten.

1961 widmete sich die CCC-Produktion „Lebensborn“ dem gleichnamigen NS-Programm, das perfekte Arier hervorbringen sollte. 1980 ließ Brauner die Lebensgeschichte der jüdischen Künstlerin Charlotte Salomon verfilmen, die einen beeindruckenden Zyklus von Gouachen hinterlassen hat. „Hitlerjunge Salomon“ von 1990 handelt von den Schuldgefühlen eines Jungen, der als vermeintlicher Vorzeigearier den Krieg überlebt.

„Atze“ Brauner, der 1918 als Abraham Brauner in eine jüdische Familie im polnischen Łódź hineingeboren wurde, schweigt bis heute über die eigene Überlebensgeschichte. Doch ließ er seine Erlebnisse in Filmen wie „Morituri“ und „Zu Freiwild verdammt“ (1984) einfließen, die beide von Fluchten vor den Nazis handeln.

Die Idee zu „Morituri“ hatte Brauner bereits direkt nach der Befreiung. Er drehte seinen Film mit Unterstützung der Sowjets in einem Wald bei Berlin. Gustav Kampendonk schrieb das Buch, Eugen York führte Regie. „Morituri“ ist zu Unrecht vergessen. Er hat vielen späteren Filmen zum Thema etwas Entscheidendes voraus: Seine Darsteller haben den Krieg eben erlebt, einige waren Überlebende des Terrors. Auch das Buch ist mit seinen Dialogen nah an der Redeweise der Zeit und kann so in Nuancen mehr Wahres vermitteln als ein ganzer „Untergang“.

„Morituri“ ist ein filmisches Mahnmal, das nie die Gesichter der Vollstrecker der nationalsozialistischen Massenvernichtung zeigt. Stattdessen geht es konsequent darum, die Internationale der Opfer als wahre Vertreter der Menschheit in den Blick zu rücken, ohne sie dabei zu überhöhen. Es gibt verrückte Flüchtlinge, manche haben Rachefantasien. Und als der Hunger im geheimen Waldlager zu groß wird, in dem große Teile des Films spielen, schlachten die Untergetauchten die einzige Ziege, die sie haben. Sie fallen über das Fleisch her und steigern sich in einen rauschhaften Tanz ums Feuer.

„Morituri“ zeigt, was es heißt, unter unmenschlichen Bedingungen zu leben. Er zeigt aber auch, dass die Würde der Entwürdigten unter anderem im Festhalten an ihrer Zeugenschaft liegt. Deutlich formuliert das im Film Maria Bronek (Winnie Markus), die deutsche Frau des polnischen Lagerarztes, der den vorher von ihm selbst ausgesonderten Häftlingen zur Flucht verholfen hat. „Schreien Sie nicht so, Sie hört ja doch niemand“, herrscht ein Nazi die Frau beim Verhör an, die weiß, dass sie sterben wird, wenn sie ihren Mann nicht verrät. Ihre Antwort lautet: „Ihr glaubt, mein Schreien hört niemand? Und morgen habt ihr es vergessen, was? Aber die ganze Welt hört es, und alle Schmerzen, jede Träne wird euch angerechnet werden.“

Programm unter www.dhm.de/kino/artur_brauner.html