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Männer fürs Besorgen von Mangelware

Das Kunststück, eine beklemmende Geschichte aus der globalisierten Gegenwart zu erzählen und dabei nicht in gepflegte Schwermut zu verfallen: Beim diesjährigen Filmfestival in Locarno war es gleich mehrfach zu bewundern. Die Veranstaltung bleibt eine plausible Plattform für zukünftige Stars

VON ISABELLA REICHER

Beto bewohnt zwei Zimmer in einer Villa in Mexiko-Stadt. Das Anwesen steht seit Jahren zum Verkauf. Beto wird von der Besitzerin dafür bezahlt, es instand zu halten. Als sich doch ein Käufer findet, droht sich die tragende Struktur seines ganzen Lebens aufzulösen. Aber dann kommt es ganz anders, als man denkt.

„Parque vía“ heißt der Siegerfilm des diesjährigen Filmfestivals von Locarno, das am Wochenende zu Ende ging. Eine mexikanische Produktion, mit der der 31-jährige Spanier Enrique Rivero sein Langfilmdebüt ablieferte. Der Film ist das Porträt eines Einzelgängers, eines „dienstbaren Geistes“, der nicht aufbegehrt. Ganz dezent spiegelt sich in Betos extrem von Routinen und Ritualen beherrschter Existenz aber auch jene seiner großbürgerlichen Arbeitgeberin: Beide sind lebende Relikte. Und beide sind eigentümlich mit dem Haus, einer modernistischen Villa, verbunden. Einmal bleibt der Kamerablick an der schweren hölzernen Haustür mit dem ungewöhnlichen Metallbeschlag hängen, und unwillkürlich muss man an all jene haunted houses des Horrorkinos denken, deren böse Aura schleichend auch die Bewohner affiziert.

Das Programm von Locarno war auch in diesem Jahr nicht eben von Komödien dominiert. Das Kunststück, eine eigentlich beklemmende Geschichte aus der globalisierten Gegenwart zu erzählen und dabei gerade nicht in gepflegte Schwermut oder Schlimmeres zu verfallen, gelang beispielsweise dem Briten Ben Hopkins oder dem US-Amerikaner Sean Baker.

Ersterer stellte in „The Market“ – einer Koproduktion mit deutscher Beteiligung – einen schlitzohrigen Schwarzmarkthändler vor: Mirhan ist im türkisch-aserbaidschanischen Grenzgebiet Mitte der 1990er-Jahre der Mann fürs Besorgen von Mangelware. Lange hat er es geschafft, sich als wendiger Ein-Mann-Betrieb sowohl von mafiösen Syndikaten als auch von Großunternehmen unabhängig zu halten.

Aber das Geld ist knapp, ein zweites Kind gerade unterwegs. Eine neue Technologie ist auf dem Vormarsch und Mirhan erkennt das Geschäftspotenzial. Für die Anzahlung auf den eigenen Handyladen lässt er sich auf eine Veruntreuung ein. Die Geschichte um den Konflikt zwischen individuellen Interessen, Moral und Businessregeln erzählt der Regisseur mit feiner Komik und mit einer schön physischen Komponente im Spiel. Mirhan-Darsteller Tayanc Ayaydin wurde nicht von ungefähr der Schauspielpreis zuerkannt.

„Prince of Broadway“ von Baker hingegen führt mitten nach New York, zu Händlern, die gefälschte Markenware verkaufen. Lucky aus Ghana, der keine Papiere besitzt, hat hier ein Einkommen und eine Art von Familie gefunden. Da drückt ihm eine Exfreundin ein Kleinkind in die Hand: Das sei sein Sohn und um den müsse er sich jetzt kümmern. In der Folge wird der kleine Lucky immer wieder zur Verzweiflung treiben – hier weint der Mann und nicht das Kind.

Auch die diesjährige 61. Ausgabe zeigte, dass das renommierte internationale Filmfestival auf Schweizer Boden nach wie vor an seiner Neupositionierung im Reigen der Kinogroßveranstaltungen laboriert. Im Vorfeld hatte Schauspielerin Anjelica Huston, der man 2008 einen „Excellence Award“ verleihen wollte, ihr Kommen abgesagt – der einzige US-Star, den man heuer zur Freude von Sponsoren und Förderern groß hätte ausstellen können. Und auch wenn man die Blockbuster-Premieren gar nicht vermisste, so war doch nicht zu übersehen, dass der Programmierung der abendlichen Freiluftvorführungen auf der Piazza Grande die Linie fehlt.

Einmal mehr wurde auch im vorletzten Jahr der Ära Frédéric Maire – der künstlerische Direktor übernimmt im Herbst 2009 die Leitung der Cinématheque Suisse – über „Glamour! Carpets! Awards! What for?“ diskutiert. Plausibler ist da allemal jene Argumentation, die Locarno als eine Plattform sieht für Talente und mögliche künftige Stars. So reiste etwa 1991 eine junge US-Produzentin mit einem unbekannten Filmemacher und dessen Debütfilm zum Festival im Tessin. Der Film hieß „Poison“, der Regisseur Todd Haynes, und Christine Vachon, die zuletzt Haynes’ Bob-Dylan-Variation „I’m Not There“ produzierte, wurde heuer mit dem Raimondo Rezzonico Award ausgezeichnet.

Dem Starprinzip entgegengesetzt ist ja schon allein jene wieder zu beobachtende Tendenz, dass sich Filmschaffende zusammenschließen, um gemeinsam Filme zu realisieren: So wie die Wiener Coop99, die im Wettbewerb das Regiedebüt des Schauspielers und Dramatikers Klaus Händl präsentierte: „März“, eine verhaltene Milieustudie, die sich in einer Abfolge von genau nachempfundenen Situationen mit den Nachwirkungen einer unerklärlichen Tat auseinandersetzt und die prompt mit dem Preis für den besten Erstlingsfilm ausgezeichnet wurde.

Oder wie der Schweizer Lionel Baier, in dessen Wettbewerbsbeitrag „Un autre homme“ seine Regiekollegen Ursula Mayer und Jean-Stéphane Bron als Darsteller mitwirken. Baiers kluger und lustiger Film erzählt von einem jungen Mann, der seiner Freundin, einer Lehrerin, in eine abgelegene Gegend im Schweizer Jura folgt. Eine Anstellung findet er als einziger Redakteur eines Lokalblatts. Unter anderem gehört zu seinen Aufgaben auch das Verfassen von Filmkritiken. In viele Aspekte dieser ehrenwerten Tätigkeit wird hier Einblick gegeben. Nur ein Festivalbesuch kommt nicht vor.

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