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Ermüdetes Material

Gutachter bestätigt im Eschede-Prozess, dass der unfallverursachende Radreifen verschlissen war

BERLIN taz ■ Die ICE-Katastrophe von Eschede aus dem Jahr 1998 mit 101 Toten ist durch Materialermüdung an einem Rad verursacht worden. Das erklärte gestern ein Gutachter des Fraunhofer-Instituts für Betriebsfestigkeit vor dem in Hannover tagenden Landgericht Lüneburg. Dort sind drei Techniker der Bahn und des Radherstellers wegen fahrlässiger Tötung angeklagt.

Das Fraunhofer-Gutachten, das im Auftrag der Staatsanwaltschaft erstellt wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass ein Ermüdungsbruch des stark abgefahrenen Radreifens die Katastrophe ausgelöst hat. Das damals extra für den ICE konstruierte Rad sollte durch einen Gummipuffer zwischen Radreifen und -scheibe Vibrationen abfedern – das so genannte Bistro-Brummen.

Gerhard Fischer vom Fraunhofer-Institut erklärte gestern, der Radreifen sei bei dem Unglück von ursprünglich 920 bis auf 862 Millimeter abgefahren gewesen. Maximal zulässig war eine Abnutzung auf 854 Millimeter. Der Ermüdungsriss sei in „einem hoch beanspruchten Bereich“ entstanden und sofort erkennbar gewesen.

Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten vor, das 1991/92 entwickelte Rad nur ungenügend getestet und bei der Überwachung geschlampt zu haben. Die zulässige Minimalgröße von 854 Millimetern sei zu gering bemessen gewesen, eine technische Überwachung der Räder habe es gar nicht gegeben. Fazit des Gutachtens: Das Rad sei der Dauerbelastung nicht gewachsen gewesen.

Dagegen geht die Verteidigung davon aus, dass das Rad nach dem damaligen Stand der Technik als unzerbrechlich galt. Dass es dennoch brach, sei nicht vorhersehbar und „höhere Gewalt“ gewesen – also den Angeklagten nicht anzulasten.

Fischer war gestern der erste von insgesamt 13 Experten, die zu dem Unfall gehört werden. Sie können das geborstene Rad im Gerichtssaal in Hannover in Augenschein nehmen. Gutachter der Verteidigung kommen aus Schweden, Südafrika, der Schweiz, Japan und Deutschland.

Schon vor Beginn der Aussagen hat ein Gutachterkrieg begonnen. Die Experten warfen sich gegenseitig Rechenfehler und andere Unzulänglichkeiten vor. Der vorsitzende Richter Michael Dölp rief die Prozessparteien am Mittwoch zu einem fairen Verfahren auf. Es gebe Anzeichen, dass die „sachliche Basis des Prozesses aufzuweichen droht“, sagte er. „Gerade Ingenieure und Juristen sollten in der Lage sein, diese Aufgabe sachlich zu meistern und auf Profilierungsgehabe zu verzichten.“

KLAUS HILLENBRAND

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