: Die Nacht der Nazis in der Zionskirche
Am 17. Oktober 1987 stürmen Neonazis ein Punkkonzert – in Ostberlin. Auf der Bühne: Element of Crime. Spätestens seit diesem Tag ist klar: Die Basis für die „neue“ Fremdenfeindlichkeit im Osten, für Hoyerswerda und Lichtenhagen, wurde in der DDR gelegt
Die Untersuchung: Nach dem Überfall rechter Skins auf die Berliner Zionskirche gab das Ministerium für Staatssicherheit beim Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung (ZIJ) eine Rechtsextremismus-Studie in Auftrag. Die Ergebnisse lagen 1988 vor, blieben jedoch geheim. Erst kurz nach der Wende wurden sie veröffentlicht.
Das Ergebnis: Es wurden mehr als tausend Skinheads in etwa 40 Gruppen gezählt. 64 Prozent der befragten DDR-Jugendlichen gaben an, stolz auf ihr „Deutschtum“ zu sein. 67 Prozent hielten Deutsche für besser als Polen, und 40 Prozent wünschten sich, dass „alle Ausländer das Land verlassen“. Das ZIJ schätzte, dass bis zu 15 Prozent aller DDR-Bürger ein „festgefügtes rechtsradikales Denkmuster“ haben, unter Jugendlichen besäße fast jeder zweite „rechtsradikale Gefühlsstrukturen“.
Es ist Nacht und nicht viel los auf der Kastanienallee im Prenzlauer Berg, Hunde werden noch ausgeführt. Der Herbst ist jetzt voll da, kühl, feucht und im Schein des orangen Lichts der Straßenlaternen auch gespenstisch. Durch die enge Kurve am Zionskirchplatz quietscht schrill die Straßenbahn. Und aus der Kirche wummert ein dumpfes Bassgeräusch in die Nacht. Nicht mehr lang, und es wird hier mächtig krachen.
Zwei Kilometer entfernt, in der Greifswalder Straße, dampft die Luft. In der Gaststätte „Sputnik“ drängen sich die Gäste. Seit nachmittags geht die Fete schon, das dritte Hundertliterfass Bier ist jetzt angestochen, die Bomberjacken sind weit geöffnet, die Zungen schwer. Ganz schön voll sind sie schon, die Faschoskins. Vorhin war es kurz ein bisschen unruhig – die Wirtin hatte verlangt, keinen mehr reinzulassen, wegen Überfüllung. Die soll sich mal nicht so haben, ist doch alles offiziell hier, genehmigt von der Abteilung Handel und Versorgung des Rates des Stadtbezirkes. Sogar Eintrittskarten haben sie. Für fünf Mark waren sie unter Skins in Ostberlin gehandelt worden, achtzig Stück, jetzt sind sie hier so um die hundert Leute. Einige haben auch ihre Kumpels aus Westberlin mitgebracht, bald müssen die wieder zurück über die Grenze.
Einer geht von Tisch zu Tisch. Er fragt rum, wer mitkommt zur Zionskirche, Punks aufschlagen, da ist heute doch das Konzert. Mehr muss er nicht sagen – in einer überschaubaren Stadt wie Ostberlin weiß jeder unter dreißig, wo was läuft. In der Nacht zuvor hatte es in Mitte eine kleine Rangelei gegeben, die Rechten hatten den Kürzeren gezogen, und einer der Punks soll gerufen haben: „Kommt doch morgen zur Zionskirche.“ Jetzt ist es so weit. Dreißig Skins trinken ihr Bier aus, ziehen die Reißverschlüsse ihrer Jacken hoch und machen sich auf den Weg.
Kurz nach 22 Uhr legt Sven Regener die Trompete zur Seite. „Der Raum war brechend voll“, erinnert sich der Musiker der Band Element of Crime an diesen Moment vor 21 Jahren in der Zionskirche. „Das war auch gefährlich, die standen bis auf die Kanzel, hingen am Kreuz, Ordner haben versucht, die Leute von uns, während wir spielten, wegzuhalten. Mir war klar: Unter solchen Bedingungen würden wir hier nicht noch mal spielen, das ist zu gefährlich für alle Beteiligten.“ Nun aber ist das Konzert vorbei, es ist keinem was passiert, die Zuhörer machen sich auf den Heimweg, die Kirche ist noch halbvoll.
Es ist nicht seine Trompete, auf der Regener gespielt hat. Damit die DDR-Grenzer ihn reinlassen, hatte er nur sein Mundstück eingesteckt, „das war das Wichtigste. Die Instrumente hat uns Die Firma geliehen, die Ostberliner Band, die vor uns gespielt hat.“ Jahre später wird Sven Regener erfahren, dass zwei der Bandmitglieder Stasi-Spitzel waren.
Dass Element of Crime mit Die Firma und Freygang in Ostberlin auftreten, ist ein deutsch-deutscher Ausnahmefall. Der Kontakt kam über den Bassisten zustande, in dessen Haus wohnte ein ausgereister Ostberliner, der wiederum Leute in der Zionsgemeinde kannte. Ein paar Plakate und Mundpropaganda reichten, um die Kirche voll zu kriegen. Regener war zuvor erst wenige Male in Ostberlin gewesen, er empfand die Stadt „wie ein Paralleluniversum, das direkt um die Ecke lag. Das sah aus wie manche Ecken von Kreuzberg, nur noch abgerockter, wenig Geschäfte, abgerissene Balkone, wie eine andere Version von Westberlin. Bizarr.“ Aber Punk ist offensichtlich grenzüberschreitend, zweitausend Leute haben der Firma und Element of Crime zugehört.
Dann passiert es.
Neonazis stürmen die Zionskirche. Sie drängen sich über das Seitenschiff hinein, schlagen mit Fäusten und Stöcken auf die Konzertbesucher ein, brüllen Parolen: „Skinhead Power!“ „Ihr Judenschweine!“ „Sieg Heil!“ „Juden raus aus deutschen Kirchen“. Ein paar kräftige Punks expedieren die Angreifer nach kurzer Rangelei nach draußen, in der Dunkelheit des Kirchplatzes wird es dann chaotisch. Es gibt Verletzte, Blut fließt, Schreie und Brüllen hallen durch die kühle Nacht.
Die Polizei, die durch die Stasi längst über das Konzert mit „Mitgliedern der westberliner Punkband Element off Cream“ informiert war, steht in einer Seitenstraße bereit. Aber sie greift nicht ein. Ein Streifenwagen fährt gar im Schritttempo an einem Verletzten vorbei. Man darf annehmen, dass die Genossen es mit der Angst zu tun bekommen hatten.
Die Ereignisse des 17. Oktober 1987 können getrost als Moment der Offenbarung gelesen werden. Nach dieser Nacht konnte niemand mehr leugnen, was viele wussten, worüber aber nicht gesprochen werden durfte: Im antifaschistischen Arbeiter-und-Bauern-Staat gab es gewaltbereite Rechtsextremisten. Und es war klar, dass es ab jetzt in Ostberlin, dem sehr kleinen, sehr überschaubaren Kosmos der Coolness, aus sein würde mit dem friedlichen Nebeneinander der Subkulturen. Ob Punk, Skin, Mod oder Waver, man kannte einander, man hatte einen gemeinsamen Feind: die Stasi. Bis zu diesem Tag ließ man einander in Frieden. Aber dieser Frieden war nun gebrochen.
Dirk Moldt war an diesem Abend dabei, er hat das Konzert mit anderen Gemeindemitgliedern organisiert. Heute ist er 45, steht im Seitenschiff der leeren Zionskirche und erinnert sich an jenen Abend: „Das Konzert war zu Ende. Ich stand hier an der Tür und habe von den Hinausgehenden die Kollekte eingenommen und dabei gequatscht. Plötzlich gab es eine Rückwärtsbewegung in die Kirche hinein, ich sah Nazis, die reinstürmten. Die hatten ordentlich getankt.“
In der Kirche waren zu diesem Zeitpunkt noch tausend Leute. Sprechchöre erschollen: „Nazis raus!“, die Angreifer wurden hinausgedrängt. „Erst später habe ich mitgekriegt, dass das mehr war als der übliche Heckmeck.“
Element-of-Crime-Musiker Sven Regener sagt, er sei damals schockiert gewesen, aber nicht wirklich verwundert. „Warum sollte es Rechtsextremismus da nicht geben? Die DDR hat aus den Leuten ja nicht bessere Menschen gemacht.“ Noch heute kann er den Ereignissen dieser Nacht nichts Anekdotisches abgewinnen. Klar, sagt er, „wir hätten damals mit unserer Geschichte in die ‚Tagesthemen‘ gehen können. Aber wir haben das nicht öffentlich gemacht, dass wir diese Band aus Westberlin waren. Das wäre reine Eitelkeit gewesen und Promo auf Kosten anderer. Die Fakten waren klar, wir hatten dem nichts hinzuzufügen.“
In den Tagen danach macht die Nachricht die Runde, die Zionskirche sei von Rechten überfallen worden und die Volkspolizei habe weggeschaut. Es kursiert auch das Gerücht, die Stasi habe alles eingefädelt. Noch in der Nacht berichtet der Westberliner RIAS über die Vorgänge, und die taz meldet: „Skins stürmten Punk-Konzert in Ostberliner Kirche“. Damit ist klar, dass es diesmal nicht so laufen kann wie sonst: wegschweigen. Diesmal muss die DDR-Justiz handeln.
Und es geht alles seinen sozialistischen Gang. Sechs Wochen nach dem Überfall beginnt in Ostberlin der Prozess gegen die vier Anführer, Anfang Dezember fallen die Urteile: zwischen einem und zwei Jahren Haft wegen „Rowdytums“. Die Empörung ist groß, sogar in der nicht eben meinungsfreien Presse werden die Strafmaße als zu niedrig kritisiert, in der kleinen DDR hatte sich herumgesprochen, dass die Verurteilten bei der Tat antisemitische und faschistische Sprüche gerufen hatten. Wie passte das zum antifaschistischen Selbstverständnis?
Der Generalstaatsanwalt der DDR verfügte die Wiederaufnahme des Verfahrens, freilich nicht ohne sich grünes Licht von Erich Honecker geholt zu haben. Diesmal bekam der Hauptangeklagte Ronny B. – ein berüchtigter Fußballhooligan, Szenename „Sturmbannführer“ – vier Jahre, seine Mitangeklagten zweieinhalb Jahre, ein Jahr und acht Monate sowie anderthalb Jahre.
Es war ein Urteil mit Signalwirkung. Der Staat, dessen Strafgesetzbuch rechtsextreme Straftaten nicht einmal vorsah, machte Front gegen die bekannten 800 Jungnazis im Land. Er tat das so, wie er es verstand: durch Repression. In den nächsten Monaten wurden Hunderte Skinheads „präventiv zugeführt“ und verhört. Weil die Genossen der Volkspolizei jedoch nicht recht vertraut waren mit den Codes der jugendlichen Subkulturen, nahmen sie einfach jeden Kurzgeschorenen mit. So kam es auch vor, dass sich im Präsidium von Berlin-Mitte Skins und Punks in derselben Arrestzelle wiedersahen.
Zwei Jahre später fiel die Mauer. Eine der letzten Amtshandlungen des DDR-Staatsrates war die Amnestie vom 6. Dezember 1989, die auch verurteilten Rechten die Freiheit brachte. Im Mai 1990 wurde „Sturmbannführer“ Ronny B. aus dem Stasigefängnis Bautzen entlassen.
Die rechte Szene der DDR war durch den Druck der letzten zwei Jahre gewachsen, man verstand sich als Opfer der verhassten Kommunisten. Jetzt war es Zeit, alte Strukturen auszubauen und die Aufbauhilfe der westdeutschen Kameraden in Anspruch zu nehmen. Im Dezember 1989 wurde das Sowjetische Ehrenmal in Berlin mit neonazistischen Parolen beschmiert, und bei den Leipziger Montagsdemos marschierten die ersten NPD-Kader, „Republikaner“ und Jungen Nationaldemokraten mit. 1991 fanden in Hoyerswerda Pogrome gegen Ausländer statt, 1992 brannte in Rostock-Lichtenhagen das Ausländerwohnheim.
Wer bis dahin gehofft hatte, fremdenfeindliche Gewalt finde in der Ex-DDR keine Basis, sah sich eines Schlechteren belehrt. Die Basis, sie war all die Jahre längst gelegt. Und spätestens nach jener Nacht des 17. Oktober 1987 hätte das jeder wissen müssen.
Ronny B. übrigens, der verurteilte Schläger, hat sich vor einem Jahr Rechtsbeistand gesucht. Er fordert seine Anerkennung als Opfer des SED-Regimes. Gelingt ihm das, stehen ihm eine Opferrente und Entschädigungszahlungen zu.
ANJA MAIER, 42, ist taz-Reporterin. Im Herbst 1987 wohnte sie drei Querstraßen entfernt von der Zionskirche. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war schon Grenzgebiet.
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