: Deutschland war weit weg und sehr langweilig
Joschka Fischer wird erster grüner Minister, Opus, Modern Talking und Helmut Kohl sind Nummer 1 – und deutsche Künstler fliehen nach Großbritannien. Michaela Melián von F.S.K. landet im Kinderzimmer von John Peel in Notting Hill Gate
Am 12. Dezember 1985 um 16.02 Uhr wird Joschka Fischer als erster grüner Minister des Planeten Erde vereidigt. Er wird Umweltminister in einer von Holger Börner geführten SPD-Grünen-Koalition in Hessen. Bei der Vereidigung trägt Fischer Jeans, ein seltsames Jackett, ein gemustertes Hemd und Turnschuhe. Bei Letzteren (siehe links) handelte sich um Nike Convention High, 148 Mark teuer, die Fischer laut Augenzeugenbericht selbst kaufte und mit Scheck bezahlte. Eine Legende lautet, dass Fischer eigentlich Adidas tragen sollte, aber die Verhandlungen der Landtagsfraktion mit dem deutschen Schuhhersteller gescheitert seien. Stimmt das? „Ich weiß es nicht mehr“, sagt Hubert Kleinert, damals als hessischer MdB dabei. An eine wohlüberlegte Inszenierung erinnert er sich aber gut. „Die Symbolik der Situation ließ ein feineres Outfit nicht zu. Deshalb musste der arme Börner diesen von ihm als Provokation empfundenen Aufzug ertragen“. – „Niemand, der ernst genommen werden will, sollte je ein solches Design wagen“, schreibt Fischers desillusionierter Biograf Jürgen Schreiber 2007. Damals empfinden es viele als Anfang von etwas Großem. Die Schuhe sind übrigens Größe 43.
1985 stand in der Spex, dass nach Holger Hiller, Maxim Rad und F.S.K. nun auch Moritz von Oswald nach London gezogen ist. 1984 war ich als Stipendiatin nach London gekommen, hatte ein Atelier gemietet nahe der Kingsland Road, nördlich des noch völlig ungentrifizierten Shoreditch. In dem Atelier durfte ich nur arbeiten, aber nicht wohnen. Die Miete verschlang zu einem guten Teil mein monatliches Stipendium. Um die Wohnungskosten zu minimieren, zog ich permanent um.
Ich hütete an der Victoria Station die Katzen für eine Kunsthistorikerin, während sie verreist war, ich fütterte die Fische eines Künstlers, der mir seine Wohnung im Wandsworth Housing Project dafür überließ. Ich schlief auf dem Boden des Showrooms von Maureen Paleys frisch gegründeter Interim Art Gallery. Jeden Morgen, bevor die Galerie öffnete, rollte ich den Schlafsack weg und verschwand in mein Atelier. Stunden verbrachte ich in Londoner Bussen, um zwischen Schlafgelegenheit und Atelier hin- und herzufahren. André Rademacher lebte damals in einem leerstehenden Gebäudekomplex der englischen Krone am Regent’s Park, damit das Haus nicht gesquattet wird, dafür zahlte er keine Miete. Tagsüber zählte er die Autos an der Shaftesbury Road, nachts arbeitete er als Maxim Rad an seiner Musik.
Deutschland war gefühlt sehr weit weg. Dort war es gerade sehr langweilig geworden, Helmut Kohl saß fest im Sattel, Joschka Fischer war als Umweltminister in Hessen ebenfalls zu Amt und Würden gelangt. Die vielen Bands, die Anfang der 80er auf vielen kleinen Labels aktiv waren, waren zu einem Großteil von der Industrie aufgekauft und stillgelegt worden. Ein großer Kater lag in der Luft. Viele Bands hatten sich aufgelöst (DAF) oder benannten sich um und sangen wieder englisch. Die Szene, mit der wir zusammen angefangen hatten, war weggespült.
Alle schauten nach England. Wir hatten mit F.S.K. gerade unsere sechste ZickZack-Platte („ZZ 1789“) und dritte LP herausgebracht, mit dem vor diesem Hintergrund programmatischen Titel „Freiwillige Selbstkontrolle goes Underground“. Das Klappcover zeigte den Torso eines nackten Mädchens mit einer Pistole als Feigenblatt. Innen war ein „4 Excerpts from My Underground Diaries“ betitelter Text von Diedrich Diederichsen abgedruckt. Musikalisch verarbeitet wurden Country, 40er-Jahre-Rhythm-and-Blues, Psychedelisches, Krautiges und natürlich Velvet Underground. In der taz und in der Frankfurter Rundschau wurden wir für unsere eklektische Appropriationstechnik verrissen, in Magazinen wie Spex und Wolkenkratzer wurde unser Ansatz verstanden.
Fünf Jahre gab es nun Alfred Hilsbergs ZickZack-Label. An Weihnachten 1984 war in der Hamburger Markthalle groß gefeiert worden: mit Andreas Dorau, Wirtschaftswunder, Nachdenkliche Wehrpflichtige, Radierer, Geisterfahrer, Kastrierte Philosophen, Zimmermänner, Freiwillige Selbstkontrolle und vielen anderen. Gleichzeitig hob Alfred ein neues Label aus der Taufe, nämlich „What so funny about“. Das war nun international, also englischsprachig, ausgerichtet und operierte nach seinem altbewährten ruinösen Motto „Lieber zu viel als zu wenig“.
Die deutschen Charts wurden damals angeführt von Opus („Live is Life“), Modern Talking („You’re My Heart, You’re My Soul“) und Falco („Rock Me Amadeus“), in den englischen Charts dagegen waren zum Beispiel Dead or Alive („You Spin Me Round (Like a Record)“), Sister Sledge („Frankie“), Eurythmics („There Must Be an Angel“), Madonna („Into the Groove“, „Like a Virgin“), The Smiths („Meat Is Murder“) und Bryan Ferry („Boys and Girls“). Die deutschen Independent-Charts waren angeführt von den Einstürzenden Neubauten, den Smiths, The Jesus and Mary Chain, Billy Bragg. Commodore bringt den Amiga-Computer heraus und der 8-Bit-Computer wird gerade vom 16-Bit-Computer abgelöst.
Was haben wir gelesen? Die Merve-Hefte mit Baudrillard, Vlusser, Virilio. „Edgar reist nach Frankreich mit seinem jüngsten Sohn, dort belegen sie gleich einen Kurs in Simulation“ (F.S.K., „Lob der Kybernetik“). „Sex Beat“ von Diederichsen und immer noch Ernst Jünger. Spex, Melody Maker, NME, Wolkenkratzer, Artscribe, I-D, Elaste. Und jede Menge kleiner Magazine, Fanzines.
Meret Oppenheim starb und Heinrich Böll. Rock Hudson stirbt an Aids. Auf der ersten Londoner Kunstmesse in einer alten Industriehalle im Süden der Stadt sehe ich eine Sound-Licht-Installation (ambiente Sounds mit sanft strahlenden Lichtelementen) von Brian Eno, und ich traue mich sogar ihn anzusprechen. Die Kunstszene war weit von der heutigen Professionalisierung und Kommerzialisierung entfernt, überall entstanden neue Galerien und Artspaces. A. R. Penck war auch nach London gezogen, jeder konnte einfach an seinem großen Atelierhaus vorbeikommen, wo man ihn oft bei einer Jam-Session mit seinen langhaarigen Assistenten antraf.
In der Royal Academy of Arts gibt’s eine große Übersichtsausstellung „German Art in the 20th Century – Paintings and Sculpture 1905–1985“, überhaupt ist mit den sogenannten Jungen Wilden die deutsche Kunst ein großes Thema in London. Im neugegründeten Artscribe, einem ehrgeizigen englischen Kunstfanzine, was schnell zur wichtigen Kunstzeitschrift wird, sind deutsche Maler auf dem Cover, und Spex-Leute wie Jutta Koether schreiben dort. Überhaupt alles war Malerei, Francis Bacon, Frank Auerbach, Lucian Freud und natürlich Baselitz, Lüpertz, Immendorff.
Im April gehen wir dann mit „Goes Underground“ auf Tournee, wir werden von einem Filmteam begleitet, denn das Musikfernsehen ist ein ganz neues Thema. In Hamburg im Kir soll Markus Oehlen mit „Beer Is Enough“ unsere Vorband sein, als er aber zum Konzert nicht erscheint, improvisiert die Bläser-Sektion von F.S.K. mit Wilfried Petzi, Posaune, und Thomas Meinecke, Trompete, spontan ein Stück namens „Bitburg“ und gibt es als Komposition von Markus Oehlen aus.
In London gehen wir zu „Gaz’s Rocking Blues“-Abenden, wir sind hin und weg von Slim Gaillard in einem Jazzclub, wir hören die Mekons, wir sind Fans von Tot Taylors und Virna Lindts Compact-Projekten, später werden die beiden zu unseren Shows kommen, wir gehen mit Maureen Paley ins Kino, besuchen die Blitz Kids im Heaven und treffen andauernd Genesis P. Orridge auf der Straße, der in der Nachbarschaft wohnt. Wir verabreden uns mit André Rademacher im French House, stehen mit Anton Corbijn und Holger Hiller, der später mein Zimmer in Hackney übernehmen wird, im ICA herum zu Videos der Einstürzenden Neubauten.
Der ganz große Traum war natürlich, dass F.S.K. eine John-Peel-Session bekommt. Die „Peel Show“ auf Radio One war ein Muss, da ich ja in London keinen Plattenspieler hatte, nur einen Radio-Kassettenrecorder.
Also die Sendung mitschneiden und versuchen zu verstehen, was er zu den Titeln sagt. Von anderen Musikern hatte ich gehört, dass man John Peel treffen kann, dass er an den Tagen, an denen er am Abend seine Radiosendung hat, schon am Spätnachmittag am Eingang zum Sender am Great Portland Place anzutreffen ist. Also fuhr ich dorthin. Und er kam, sammelte die mitgebrachten Kassetten und Platten ein.
Als ich dann die Woche darauf wieder dort hinging, fragte er mich, ob wir denn nicht eine Session machen wollten und wo er uns erreichen könnte. Da ich damals gerade wieder umgezogen war, also eine Wohnung zwischennutzte, war es mir nicht wirklich möglich, eine Telefonnummer in London zu hinterlassen. Darauf bot mir John an, in seinem Elternhaus zu wohnen. Ich sollte am nächsten Tag wiederkommen, er hatte inzwischen mit seiner Mutter gesprochen und überreichte mir den Haustürschlüssel.
Ich wohnte also für die nächsten Wochen in seinem Kinderzimmer in Notting Hill Gate, während er, wenn er zum Senden nach London kam, auf der Wohnzimmercouch übernachtete. Unter dem Dach wohnte ebenfalls vorübergehend sein Bruder, der mich zum abendlichen Pina-Bausch-Videos-Kucken vor seinen Fernseher einlud.
Da die Band dann im Sommer für die Session nach London kam, spielten wir auch noch zwei Konzerte in London, im Goethe-Institut zur Eröffnung einer Gruppenausstellung der London-Kunststipendiaten und bei der „Max Headroom Rock Week“ im ICA. Beim selben Festival wird dann auch eine neue Band namens Pet Shop Boys auftreten. Und in der gleichen Woche stellt Nico ihr neues Album „Camera Obscura“ in London vor.
Für die John-Peel-Show haben wir in den BBC-Studios die Stücke „A Swinging Safari“, „Lieber ein Glas zuviel“, „Drunk“ und „Trink wie ein Tier“ aufgenommen (the session dedicated to the celebration of the power of positive drinking). Die Aufnahmen werden dann auf der Maxi „Last Orders“, ZickZack ZZ1066, veröffentlicht.
„Diskaempferting“ (NME) oder „Gestapo Accents and Kaiserbilly“ (Sounds) oder „In Every Dream Home a Yodel“ (NME), steht in den englischen Musikzeitschriften über uns. Englische Lyrics werden nicht vermisst. Dafür wird vermutet, dass wir womöglich darüber singen, wie wir unsere Socken waschen.
MICHAELA MELIÁN (* 15. Juni 1956 in München), Künstlerin und Musikerin, ist seit 1980 Mitglied der Band F.S.K., lebt in München und lehrt an der ETH Zürich konzeptuelle Praxis in Medien und Sound. Die Freiwillige Selbstkontrolle (F.S.K.), laut Diedrich Diederichsen „Band für die deutsche Intelligenz“, war geprägt von ästhetischen Überlegungen sowie der Abgrenzung von Hippies und Weltverbesserern.
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