: Deutschlands erste Grüne
Am 12. Januar 1980 beginnt der Gründungsparteitag der Grünen als Bundespartei. Zu der Zeit hat Gertraut Winkler schon eineinhalb Jahre einen Mitgliedsausweis. Und heute? In ihrer Biografie spiegelt sich die schrittweise Rückkehr der rebellischen Bürgerkinder in die Mitte der Gesellschaft. Ein Besuch
1.004 Delegierte gründeten am 12. und 13. Januar 1980 in Karlsruhe die Bundespartei „Die Grünen“. Der Gründungsbeschluss wurde mit der Zweidrittelmehrheit von 875 gegen 53 Stimmen bei 12 Enthaltungen gefasst. Schon am 16. und 17. März 1979 war die „Sonstige politische Vereinigung Die Grünen“ mit Petra Kelly und Herbert Gruhl als Spitzenkandidaten bei der Europawahl angetreten. Sie erreichte 3,2 Prozent der Stimmen. Bei der Gründung der Bundespartei wurde eine Satzung verabschiedet. Dennoch sahen sich „Die Grünen“ nicht als Partei, sondern als Bewegung. Petra Kelly nannte „die Grünen“ eine „Anti-Parteien-Partei“. Die Parteigründung sollte nur ein Vorgehen im Parlament ermöglichen. Vier Prinzipien wurden als wesentlich angesehen. Die Bewegung solle „sozial, ökologisch, basisdemokratisch und gewaltfrei“ sein.
Nun ist es schon dunkel geworden, und Gertraut Winkler beginnt zu singen: „Das Wattenmeer, das Wattenmeer, das ist bald leer.“ Die Melodie ist leicht improvisiert, so genau kennt sie sie nicht mehr, es war irgendetwas „in Moll Gehaltenes“. Auch den Text habe sie nicht mehr so sicher drauf. Dann guckt sie, am Kachelofen ihres Wohnzimmers im bayerischen Vaterstetten sitzend, noch mal auf das Schwarzweißfoto vor sich. Es zeigt sie und andere junge Leute 1982 als „Wattwurm“, singend, mit Klampfe und in weiße Laken gekleidet.
Gertraut Winkler lacht hinreißend. So sahen Umweltschutzaktionen damals aus. Sie kann sagen, sie ist dabei gewesen. Gertraut Winkler, „Grünen“-Mitglied Nummer 1. „Grünen“-Mitglied Nummer 1? Winkler mag das zunächst nicht recht glauben – und manche Historiker mögen die Stirn runzeln. Aber rein formal und logisch betrachtet ist sie es: Gertraut Winkler, geborene Loeper, heute 48 Jahre alt, war die erste „Grüne“ der Bundesrepublik.
Ihr Landesverband, der bayerische, nannte sich zuerst offiziell „Die Grünen“, so traten die bayerischen Ökos am 15. Oktober 1978 bei der Landtagswahl an. Davor gab es nur „Grüne Listen“, „Bunte Listen“ oder Bürgerinitiativen, die irgendwann einmal den „Grünen“ beitraten. Erst am 12./13. Januar 1980 fand der Gründungsparteitag der Bundespartei in Karlsruhe statt. Eine zentrale Mitgliederdatei gab es erst spät. Die damals knapp 18-jährige Gertraut Loeper aus Baldham war das erste Mitglied der ersten, der bayerischen „Grünen“. Aufnahmetag: 28. Juni 1978.
Im Archiv „Grünes Gedächtnis“ der parteinahen Heinrich-Böll-Stiftung, gelegen in einem früheren Schlachthof aus Backstein in Berlin-Friedrichshain, findet sich ihr Aufnahmeantrag unter den Mitgliederakten der bayerischen Grünen. Und übrigens auch der Beitrittsantrag von Petra Kelly, die bei der Gründung in Karlsruhe 1980 dabei war. Sie trat in eine Vorläuferorganisation der Grünen ein: in die „Sonstige Politische Vereinigung“. So früh wie Gertraut Winkler aber konnte sich niemand „Grüne“ nennen.
Etwas peinlich ist ihr das. Warum solle gerade sie interviewt werden, will sie wissen. Vielleicht, weil sich mit der Geschichte der Gertraut Winkler eine Geschichte der Grünen in der Bundesrepublik nachzeichnen lässt. Weil sich in ihrer Biografie die langsame Rückkehr der Bürgerkinder in die Mitte der Gesellschaft spiegelt.
Gertraut Winkler ist mit einem etwas abgeranzten Kombi zum Bahnhof gekommen. Ein erstes Auto schaffte sie, gegen den Willen ihres Mannes, erst mit 32 Jahren an, davor wollten beide aus Naturschutzgründen darauf verzichten. Doch es geht kaum anders hier im Speckgürtel von München, im fast ländlichen Vaterstetten. Mit zwei Kindern, vorn und hinten auf ihrem Rad, wurde es gerade im Winter zu gefährlich. Und nun brauche sie das größere Auto für den Transport ihrer Bilder. Gertraut Winkler ist Kunsterzieherin an einer katholischen Mädchenrealschule in München, ausgebildete Grafikdesignerin und freie Künstlerin.
Sie ist blond, blauäugig, blühend vor Leben, resch, wie man hier wohl sagen würde. Das war sie schon so, als sie den „Grünen“ beitrat – die Fotos, die sie später aus dieser Zeit zeigt, legen das zumindest nahe. Warum sie damals der neuen Partei beitrat? Zuhause in ihrem Reihenhaus erzählt sie auf diese Frage eine Geschichte: Geboren 1960 in Peru als Tochter eines in Lateinamerika arbeitenden Siemens-Mitarbeiters und einer Sekretärin, kam sie als Neunjährige mit ihrer Familie nach Deutschland, genauer: nach Baldham, heute ein Ortsteil Vaterstettens. Beim Blick aus dem Flugzeug habe sie ihr „erstes grünes Erlebnis“ gehabt, erzählt Gertraut Winkler – ein Entsetzen über „das komische Land, wo die Wälder so eckig sind“. Sie nennt das heute „eine bewusste Reflexion über Natur“, die sie stets bewegte.
Da lag ein Beitritt bei den „Grünen“ nahe. Gerade weil ihr Vater, ein Adenauer-Verehrer, mit dem sie sich häufig „wahnsinnig gestritten“ habe, die Atomkraft als „das Heil der Menschen“ anpries und verkündete: „Wenn jemand eine Pershing in meinem Garten aufstellen will – jederzeit!“
Über den evangelischen Hauskreis ihrer Tennis spielenden Mutter kam sie nach einem „Yoga und Christentum“-Vortrag eines AUD-Mitglieds – die „Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher“ war eine Vorläuferorganisation der grünen Partei – zu den „Grünen“. Wie und wo sie beitrat, weiß sie nicht mehr. Sie saß jedenfalls dauernd in ihrem orange gestrichenen Zimmer, hörte Leonard Cohen und „hatte so Säcke an – logo“. Außerdem war sie im Deutschen Jugendbund für Naturbeobachtung und „hatte nur grüne Freunde“, wie sie verschwörerisch flüstert. Gertraut Winkler nennt sich halb ironisch „eine der ersten Sprayerinnen von Vaterstetten“. Damals sprühte sie beim Bahnhof den Spruch „Vaterstetten ist nicht richtig“ an eine Wand. Heute lebt sie wieder hier.
Ein aktives Grünen-Mitglied war Gertraut Winkler nie, an Parteiversammlungen oder gar -tage kann sie sich nicht erinnern. Auf Demos ging sie in ihrer Studienzeit fleißig, Moore in Norddeutschland renaturierte sie und auf einer Hallig zählte sie Vögel. Damals lebte sie in Hamburg in einer WG. Wie es sich gehörte. Sie zählte sich immer zu den Realos. Die Fundis hätten ihr „Angst gemacht“, auch wenn sie Petra Kelly „verehrt habe“.
„Ich war eine brave Grüne“, sagt sie, „wo es anarchistisch wurde – das fand ich bedrohlich“. So habe ihr zwar die Klo-Kette aus Mercedessternen in ihrer WG gut gefallen. Nicht aber, dass die mit ihr wohnenden Punks sich stundenlang die Haare färbten, während sie mit ihrem Freund Helfried im Garten Hochbeete anlegte. „Nach dem Mond ausgerichtet!“ Da muss sie heute drüber lachen. In Hamburg war sie „in Makrobioten-Kreisen“. Sie bemalte die Wände eines Bioladens. Der Laden hieß „Der fröhliche Reisball“ – „das Brave“ der Zeichnungen lässt sie heute den Kopf schütteln.
Irgendwann – warum genau, weiß sie nicht mehr – trat sie aus den Grünen aus. Gleichwohl blieb ihr der Umweltschutz wichtig: Noch heute sammelt Gertraut Winkler Abfall von der Straße auf, einfach so. Urlaub macht sie mit ihrem Mann Robert, ihrer 15-jährigen Tochter Mimi und ihrem 18-jährigen Sohn Urs möglichst, ohne das Auto oder gar ein Flugzeug zu nutzen – „sehr zum Leidwesen unserer Kinder“.
Dass ihre Eltern ein bisschen anders sind als andere Eltern in Vaterstetten mit seinen vielen Vier-Autos-Familien, erzählen einem die Kinder. Sie seien „strange“, sagen sie, ohne dass so recht klar wird, warum eigentlich.
Der sehr bescheidene Vorgarten ist etwas wilder bewachsen als die anderen in ihrer Seitenstraße. Nur hier stehen Räder vor dem Haus. Auch nur dieses eine Haus wird durch Efeu begrünt. Sonst aber führen die Winklers auf den ersten Blick einen normalen bürgerlichen Haushalt. Auf dem Klavier im Wohnzimmer liegt ein Band mit Bach-Partituren. Vor der Haustür im Beet steht ein winziger Gartenzwerg aus Ton. Das ist wohl Ironie.
Gertraut Winklers Mann ist Referatsleiter im bayerischen Umweltministerium und mischt als grüner Abgeordneter den – versteht sich – CSU-dominierten Gemeinderat von Vaterstetten auf. Gertraut Winkler ist mächtig stolz auf das politische Engagement ihres Mannes („Er hat es einfach drauf“). Sein Wahlplakat für die bayerische Kommunalwahl im Frühling hängt an der Küchentür. Ein Foto von ihm aus den 80ern mit Reinhold-Messner-Appeal ziert die Abzugshaube ihrer Küche. Sie kennt ihn seit Jugendzeiten.
Als Robert Winkler nach Hause kommt, zieht er sich erst mal für das Familienfoto um: raus aus dem blauen Anzug, weg mit der bordeauxroten Krawatte samt Blümchenmuster, rein in die Jeans. Zusammen gehen sie zu ihrer kleinen Garage, wo nicht weniger als elf Räder stehen, darunter zwei Liegeräder und ein teures Tandem, mit dem das Paar längere Urlaubstouren macht. Ihr Mann, sagt sie, sei der wirkliche Grüne. Warum? „Weil wahre Ökologie nicht ohne Verzicht möglich ist – und das fällt meinem Mann nicht schwer.“ Selbst ihrem chinesischen Gastsohn habe ihr Mann zu überzeugen versucht: „You have to found the Green Party of China!“
Gertraut Winkler sagt, sie wolle möglichst bald wieder bei den Grünen eintreten: „Es kann sich nur noch um Stunden handeln.“ Sie seien immer noch eine der „modernsten Parteien“: „Ich fühle mich bei den Grünen zuhause – das ist ein guter Ausdruck.“ Allerdings seien „wir doch recht bürgerlich“ geworden. Es bleibt unklar, ob sie die Grünen meint – oder sich und ihre Familie.
Als wollte Gertraut Winkler etwas beweisen, kramt sie in der Garage ein wenig rum und holt ein altes Schild heraus. Es hing lange an dem Tor, ehe ihre Tochter, eine Sprayerin, die Garage mit einer knallig bunten Biene besprühte. Strahlend hält sie das Schild wieder an seinen ursprünglichen Platz. „Freiheit aushalten“ steht darauf.
PHILIPP GESSLER, 41, ist taz-Reporter.
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