: Wunden lecken, Fakten schaffen
Niedersachsen: Im ersten Jahr der CDU/FDP-Regierung hat es Ministerpräsident Christian Wulff geschafft, sich durch eine Politik des Nicht-Aneckens unangreifbar zu machen. SPD und Grüne leiden noch immer unter dem Trauma des Machtverlustes
aus HannoverKAI SCHÖNEBERG
Eigentlich hatten die Niedersachsen am 2. Februar 2003 nur den schwächelnden Gerhard Schröder gemeint – und dann doch dessen Nachfolger Sigmar Gabriel aus der Regierung gejagt. Während sich die SPD bis heute nicht vom Trauma des Machtverlustes gelöst hat, schafft die neue CDU/FDP-Landesregierung knallhart Fakten.
Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) errang bei der Niedersachsen-Wahl nicht nur einen Kantersieg (48,3 Prozent, 12,4 Punkte mehr als 1998), im Lauf des Jahres hat er sich auch an Hessens Roland Koch vorbei zum Kronprinzen der Merkel-CDU gemausert. Dabei hat sich Wulff durch einen unbestritten starken Start und eine Politik des Nicht-Aneckens quasi unangreifbar gemacht. Viel ist die Koalition bislang angegangen: Abschaffung der Bezirksregierungen, Krankenhausreform, Polizeireform, Schulreform – wahrgenommen wird indessen vor allem das rigorose Sparpaket.
Die „neue bürgerliche Mehrheit“ sehe „keine Alternative“ zur Politik des Kürzens, wenn Niedersachsen die Schuldenfalle verlassen wolle, wiederholen Wulff und Konsorten gebetsmühlenartig – und nehmen dabei Proteste billigend in Kauf. Gewerkschaften, Sozialverbände, Kindergärten, Hochschulen, Theater, Polizei, Lehrer oder die Aids-Hilfen gingen bislang auf die Straße: Knapp 20.000 Studenten, 5.000 Polizisten, 2.000 Schüler, aber auch hunderte Eltern und Kindergartenkinder.
Aber das sind für die CDU nur „Minderheiten“, Wulff setzt darauf, die „große Bereitschaft zum Sparen“ im breiten Volk abzuschöpfen. Zugleich wird die eigene Klientel mit 1.000 neuen Polizisten und 2.500 neuen Lehrern ruhig gestellt. Dabei sinken die Schülerzahlen, während die Zahl der Studenten steigt. Deshalb findet auch das „Hochschuloptimierungskonzept“, mit dem Wissenschaftsminister Lutz Stratmann (CDU) in diesem Jahr 40,6 Millionen Euro einsparen will, wenig Freunde.
Der auch für die Kultur zuständige Minister steht zudem wegen der Einsparungen an den Bühnen des Landes unter Feuer. Staatsoper und Schauspiel in Hannover, von Kritikern mit Lob überschüttet, protestierten aus Furcht vor Niveau-Verlust. Opern-Intendant Albrecht Puhlmann, der wegen radikaler Inszenierungen hoch gelobt wie ausgebuht wurde, kehrt Hannover von 2006 an den Rücken und geht nach Stuttgart.
Als echter Schwachpunkt in den neu besetzten Chefetagen hat sich bislang die FDP erwiesen. Die Liberalen konnten sich in entscheidenden Fragen nicht gegen den großen Koalitionspartner durchsetzen: Die CDU drückte die vielfach kritisierten Verschärfungen im Polizeigesetz durch, auch beim Streit um das Kopftuch im öffentlichen Dienst zeichnet sich ab, dass urliberale Positionen preisgegeben werden. Zudem gilt der ungeschickt agierende FDP-Umweltminister Hans-Heinrich Sander als schwächster Ressortchef.
Das fällt jedoch bislang kaum ins Gewicht. Denn es scheint, als hätten sich SPD und auch die Grünen noch nicht von der Wahlniederlage erholt. Man könnte meinen, für die Opposition könnte es nur noch aufwärts gehen – leider ist das zumindest zu bezweifeln. Die Grünen stehen nach dem Abgang von Fraktionschefin Rebecca Harms ins Europaparlament demnächst ohne echte Führungspersönlichkeit da. Noch desolater die Sozialdemokraten: Bis zum Herbst waren sie mit Wundenlecken beschäftigt, derzeit ringen sie mit der Bundes-SPD und mit dem Neuaufbau der Landespartei. Vielleicht sollte sich nicht nur Fraktionschef Sigmar Gabriel einem „Coaching“ unterziehen, um die Wahlschlappe zu überwinden.
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