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Ein Außenseiter von den Philippinen

Das Arsenal Kino würdigt in einer Retrospektive die Epen des philippinischen Filmemachers Lav Diaz

Eine Frau kommt in ein Dorf irgendwo auf den Philippinen. Sie trägt Lackstiefel, ein sehr knappes Kleid und einen leichten, schwarzen Mantel. Schweigend spaziert sie die Straßen zwischen den weit verstreuten Häusern entlang. Gelegentlich raucht sie, unterwegs trifft sie eine Nonne, die Geld für die Armen sammelt. Abends sitzt sie in einem Gasthaus, wo ein Mann auf sie zutritt, der sie wiedererkennt: „Alberta?“ Doch sie weist ihn ab. Sie heißt Jenine Salvador. Sagt sie.

Die Identitäten der Figuren sind zweideutig in „Melancholia“, dem neuen Film von Lav Diaz. Die Menschen, deren Wege einander hier kreuzen, sind nicht einfach sie selbst, wie man von einer Nonne, einer Prostituierten, einem Zuhälter usw. erwarten würde. Sie machen sich mit ihrer Existenz bewusst zu typischen Stellvertretern der philippinischen Nation. Um nicht weniger geht es Lav Diaz in allen seinen Filmen: um eine Nationalgeschichte im Modus der Meditation. Politische Analyse tritt dabei zuweilen zurück hinter den Versuch, die grundsätzliche Befindlichkeit der Menschen in einem Land zu verstehen, das aus seiner Ohnmacht nicht herauszufinden scheint. Er hat dafür eine originäre Form entwickelt, die ihn auf den Filmfestivals zu einem Außenseiter hat werden lassen – man ist an seinen Filmen interessiert, weiß aber nicht so recht, wie sich diese bis zu elfstündigen Werke, die manchmal wie Installationen wirken, am besten zeigen lassen.

Einer auch in Berlin schon recht langen Geschichte mehr oder weniger gelungener, verstreuter Präsentationen lässt das Arsenal nun die einzig konsequente Form folgen: eine konzentrierte Werkschau in einem Kino. Nur so wird der narrative Charakter auch gewürdigt. Vier große Blöcke gibt es zu sehen, dazu der mit knapp sechs Stunden eher mittellange „Batang West Side“ und einige kleinere, frühere Arbeiten von Lav Diaz. „Melancholia“, der aktuelle Film, hatte erst kürzlich in Venedig Weltpremiere.

Das Zentrum bildet dabei das längste dieser Epen: „Evolution of a Filipino Family“. Lav Diaz erzählt darin tatsächlich eine Familiengeschichte, die zwar im Wesentlichen in der Zeit des Diktators Ferdinand Marcos spielt, aber tief in die Zeit einer ursprünglichen Ressourcenwirtschaft im Dschungel und später der Landwirtschaft in den Barrios zurückreicht. Die komplexe Verschachtelung der Erzählung ist ein Indiz für das Interesse des Regisseurs, die Geschichte des Landes über dessen Ungleichzeitigkeiten zu begreifen – die Menschen gehorchen ganz alten Überlebensinstinkten und verfolgen gleichzeitig mit angespanntem Interesse eine Seifenoper im Radio.

In „Evolution“ wie in nahezu allen seinen Filmen bezieht Lav Diaz sich auch ausdrücklich auf die Filmgeschichte seines Landes, dessen bekannteste Regisseure wie Lino Brocka oder Ishmael Bernal hin- und hergerissen waren zwischen populären Formen und intellektueller Kritik. Häufig gelang eine Versöhnung dieser beiden Modelle, und auch vor diesem Hintergrund lässt sich erkennen, wie sehr sich Lav Diaz mit seinem Kino im eigenen Land marginalisiert. Eben erst wurde bekannt, dass die Prädikatisierungsbehörde seinem vorletzten Film „Death in the Land of Encantos“ eine Freigabe verweigert hat – einer Einstellung einer nackten Frau wegen gilt das Werk nun als pornografisch. Dabei verhält sich die Sache doch gerade umgekehrt: Lav Diaz sucht nach einem Bild für die Idolatrie, die der weibliche Körper in einem Land erfährt, in dem Prostitution gleichzeitig allgegenwärtig ist. Auch in „Melancholia“ eignet der Sexualität etwas Performatives, sie ist Show, Ausverkauf, aber auch Kunstwerk und Tanz, Skulptur und Kontemplation. Die Werkschau im Arsenal wird von einem Seminar an der dffb begleitet, dazu ist ein revolver-Filmgespräch mit Lav Diaz geplant. Auch wenn es eine Woche höchst konzentrierter Arbeit verlangt: Nie war die Chance besser, einen der überragenden Vertreter des heutigen Weltkinos in gebührender Form kennen zu lernen.

BERT REBHANDL

Bis 1. 11. im Arsenal Kino, Programm unter www.fdk-berlin.de/de/arsenal/programm

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