: Was willst du haben?
Mädchen und Jungen, Drogen und Waffen: Der junge amerikanische Autor Nick McDonell unternimmt in seinem Roman „Zwölf“ eine Reise durch die weiße Hölle der amerikanischen Upperclass
von HENNING KOBER
Hallo und herzlich willkommen im Leben von Mike, genannt White Mike, und seinen Freunden Hunter, Andrew, Sarah, Charlie, Chris, Claude, Jessica, Lionel, Tobias, Warren, Sean, Timmy, Mark, Nana und Molly. Lest ihre Geschichte, die Nick McDonell in seinem Romandebüt „Zwölf“ aufgeschrieben hat, wenn ihr traurig von einem Date mit einer tollen Person kommt oder euphorisiert von schönen Drogen an einem hellen Morgen mit der S-Bahn oder besser dem Taxi nach Hause fahrt. Lest dieses Buch, wenn Berlin kalt und Reutlingen böse ist. Lest dieses Buch, wenn ihr mehr als zwei Seelen in eurer Brust spürt. Ihr werdet Freunde finden, die rauchen, trinken, schnupfen bis es weh tut. Die Trost finden bei Prada, Häagen-Dazs und MTV. Die in den tot eingerichteten Wohnungen der Eltern feiern. Die über die Schneide eines Messers streichen, bis sich die Klinge rot färbt und ein Gefühl der Stärke durch ihren Körper dringt.
Die Upper East Side in New York ist der Spielplatz für die Helden dieser Geschichte. Zu Hause kümmern sich Hausangestellte, im Lift gibt es einen Knopf, der dem Portier signalisiert, dass er ein Taxi anhalten soll. Der Box- oder Fitnesstrainer kommt zum Privatunterricht nach Hause. Willkommen in der angenehmsten Hölle der Welt.
White Mike ist 17, hat gerade die Highschool abgeschlossen, nimmt vor dem College ein Jahr Auszeit. Seine Mutter ist gestorben. Krebs. Offiziell hilft er seinem Vater beim Managen einer Restaurantkette. In Wirklichkeit hetzt er durch die Stadt und verkauft Drogen. Gras, Koks, und Zwölf, die fiktive Droge, nach der der Roman benannt ist und die an Crystal erinnert. Mike verkauft Spaß. „Ich bin die Party“, sagt er. Selbst raucht er nicht, hat noch nie einen Schluck Alkohol getrunken. Er trägt Mäntel von Brooks-Brothers und Kapuzenpullover. Sieht aus wie James Dean auf der Flucht. Sehr gut, sehr cool.
Es sind die Tage vor Silvester. Es muss etwas passieren, denn hey: „Du bist geboren in der Hauptstadt der Welt und es gibt kein Entrinnen, das ist so, weil alle wollen, dass es so ist. Es geht nur ums Habenwollen. Was willst du haben?“
Was willst du haben? – Sarahs Vorbild ist ihre Großmutter, die es mit einer wilden Nacht auf Long Island aufs Cover des People-Magazine schaffte. Sarah will berühmt werden, deshalb die Silvesterparty im Haus von Chris’ und Claudes Eltern. Chris will Sex, zum ersten Mal. Am besten mit Sarah. Also geht das mit der Party in Ordnung. Andrew will auch Sex mit Sarah. Claude will wie Bruce Willis aussehen und behängt sich selbst mit Waffen. Jessica will das Gefühl zurück, das Zwölf ihr gegeben hat. Sie will mehr von der Droge. Hunter steht unter Mordverdacht und will raus dem Untersuchungsgefängnis. Und Charlie? Charlie will nichts mehr. Er ist der erste Tote in dieser Geschichte. Erschossen, als er einen Drogendeal beobachtet.
Erzählt wird in kurzen Kapiteln. Fast hundert. Trotzdem bleibt viel Platz auf den knapp über 200 Seiten. Nick McDonell ist ein Meister des kurzen Satzes. Wir vermissen nichts. Gefühle werden durch den dritten Nebensatz nicht wahrer. „White Mike tauchte wieder in die Menschenmenge ein. Er wünschte sich, weit weg zu sein. Einfach weit weg aus dieser ganzen Stadt. Von diesem Ort, wo Leute sich ihre Finger abkauten und direkt neben ihnen Leute im Smoking Champagner schlürften. Reiß dich zusammen, dachte er. Sei kein Arschloch.“
Natürlich sind alle in seiner Umgebung Arschlöcher. Oberflächlich betrachtet. Tobias, der inzwischen als Model arbeitet, erzählt gern die Geschichte, wie er als Zwölfjähriger ins Bett geschissen hat, um zu beobachten, wie das Dienstmädchen das Bett sauber machen muss. Mike beobachtet das Paar gegenüber mit dem Feldstecher beim Sex. Jessica trägt das Geld ihrer Eltern in Plastiktüten gefüllt mit tausend Dollar zum Dealer.
Das ist ein bisschen krank, ein bisschen behindert. Die Protagonisten dieser Geschichte sind kalt und vor allem mit sich selbst beschäftigt: „Tobias überlegt, ob er sich seine in Gold geprägten Initialen vielleicht auf seinen Rücken tätowieren lassen soll, ein paar Zentimeter über seinen Hintern, da, wo sein Schwerpunkt liegt.“ Aber ist dieser Gedanke so absurd, wenn man sein Werbebild auf einem Bus vorbeifahren sieht? Sanfte Stylistenhände an seinem Körper gespürt hat? Das helle Licht im Fotostudio die eigene Haut in ein neues, ungekanntes Licht gesetzt hat? Begehrt zu werden ist alles.
Die Jungs und Mädchen in „Zwölf“ sind entweder sehr, sehr glücklich oder sehr, sehr verzweifelt. Die Eltern kämpfen um ihr eigenes Leben. Sie sind wie Hunters Vater Alkoholiker und traurig oder wie Mikes Vater nie zu Hause. Es gibt keinen Halt, jeder ist auf sich allein gestellt. Erholung schenkt allein Schlaf, und der ist oft nur zu ertragen, wenn man sich in seinen Markenklamotten unter die Decke kuschelt. Prada rettet deine Seele auch in der Nacht.
Nick McDonells Roman erzählt die Geschichte eines Dutzends Freunde und Bekannter. „Jeder kennt jeden, irgendwie.“ Sie alle suchen ein Gefühl. Egal welches. Meist landen sie beim Schmerz, der auf das kurze Glück folgt: „Jessica nimmt eine weitere Prise und das Prickeln wird stärker und verlagert sich vom Rücken in den Hinterkopf. Ein breites Grinsen legt sich über ihr Gesicht und die Farben im Bad tanzen. Ihr Gesicht rutscht langsam über das Porzellan und hinterlässt eine Schweißspur.“
Die Mädchen blasen Footballspielern einen, um sich ihre Jungfräulichkeit zu erhalten. Die Jungs sind schon weiter. Claude hat sich mit dem Koks bereits die Nasenschleimhäute verdorben. Er weiß, dass Waffen besser sind als Drogen: „Claude ist in seinem Zimmer, nackt bis auf die Unterwäsche, und übt mit dem zweischneidigen Schwert. Danach setzt er sich mit einem Wetzstein auf die Bettkante und schärft das Schwert.“
Wer ist dieser Nick McDonell? Was hat ihn zu diesem Autor, der er ist, gemacht, der diese Geschichte erzählen kann? Nick McDonell war 17 Jahre alt als er „Zwölf“ schrieb. Jeden Tag 1,000 Wörter. Am Ende der Sommerferien war er fertig.
Sein Erfolg ist nicht vom Himmel gefallen. Um ein Buch zu schreiben, braucht man Energie und Talent. Um ein Buch zu veröffentlichen, braucht man eine Welt, in der es darauf ankommt, wen man kennt oder wessen Sohn man ist. Nicks Vater Terry McDonell ist Chefredakteur der renommierten Sports Illustrated, seine Mutter Joanie ebenfalls Autorin. Sein amerikanischer Verleger Morgan Entrekin ist auch sein Patenonkel. „Zwölf“ wurde in elf Ländern verkauft, die Filmrechte sind vergeben. – So weit. Sein Roman wird dadurch nicht schlechter.
Wie kann es sein, dass jemand in diesem Alter so berührend schreiben kann? Nick McDonell ist kein Einzelfall. „Zwölf“ ist nur das letzte Glied einer Kette neuer amerikanischer Romane, die einst mit Bret Easton Ellis und dessen Debüt „Less Than Zero“ ihren Anfang nahm. Er hält sich nicht für ein Genie: „Ich habe viel in den Kursen für kreatives Schreiben gelernt. Zum Beispiel, dass Präsens die Geschichte schneller, wahrhaftiger macht“, erklärt Nick McDonell in einem Interview.
Vielleicht ist es ja das amerikanische Schulsystem, das aus einem bleichen Jungen, den man in der U-Bahn übersehen würde, einen Topstar der Literatur macht. Ein Topstar, der sich in Entertainment Weekly vor dem Hintergrund einer stilvoll eingerichteten Wohnung mit zerzausten Haaren und gelockerter Krawatte inmitten von zerdrückten Budweiser-Dosen und vollgeaschten Tellern fotografieren lässt.
Nick McDonell ist also da. Im Februar ist er 19 geworden, seit letztem Herbst studiert er in Harvard. Er hat eine Geschichte aufgeschrieben, die zu Teilen seine eigene ist. Er hat einiges hinter sich gelassen: „Jessica sieht Lionel nicht an, sondern starrt die ganze Zeit auf die Tüte in seiner Hand. ,Ich vögel dich. Ich bin noch Jungfrau‘. Lionel ist einverstanden, ihr die Tüte für zwei Nummern zu geben. Sie sieht Lionel an und greif nach ihrem Pullover. Sie zieht ihn über den Kopf, und in dem blauen Licht sind ihre blassen Brüste zu sehen.“
Das ist die Silvesterparty, der Moment, auf den alles zusteuert. Die Nacht, an deren Ende alles neu sein soll, und die einen aus der Angst, etwas zu verpassen, mutig macht. Zuletzt liegen die Helden in ihrem eigenen Blut. Wer weiter lebt, ist für immer verwandelt. Vielleicht bereit, das Leben zu meistern. White Mike geht wie sein Autor Nick McDonell an die Universität. Dort kifft er zum ersten Mal. „Es war okay.“
Den Kritikern gefällt der Schluss des Buches nicht. „Absurd“, findet die New York Times. Die letzten drei Seiten erinnern an einen amerikanischen Teen-Horror-Film. Krass. Aber wie soll so eine Geschichte enden? Soll das Leben einfach weitergehen? Soll die eigene Verdorbenheit mit „Zwölf“ cool werden?
Nick McDonell hat eine andere Antwort. Wir glauben, dass er ein sehr kluger junger Mann ist.
Nick McDonell: „Zwölf“. Aus demAmerikanischen von Thomas Gunkel.KiWi Paperback, 230 S., 7,90 €
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