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christoph schultheisIch will hier auch raus!

Während uns RTL im australischen Dschungel Survivaltraining vorgaukelt, geht das ZDF einen anderen Weg, um uns künftig das Überleben zu erleichtern.

Drehen wir die Zeit zurück, erinnern uns an die Fernsehjahre 1995/96. Und natürlich erinnern wir uns zunächst mal nicht. An gar nichts.

Dabei hatte 1995 doch Günther Jauchs „Stern TV“ die Zusammenarbeit mit Michael Born beendet, Friedrich Küppersbusch kein „Zak“ mehr moderiert und Thomas Gottschalk keine „Gottschalks Late Night“. Und wenn hier jetzt noch aufgeschrieben steht, dass 1996 der Küppersbusch mit „Privatfernsehen“ weitermachen durfte, Jauch sowieso und Margarethe Schreinemakers nicht, dann endlich sagen wir: Ach so, ja ja, natürlich! Und lief im ZDF nicht „Für alle Fälle Fitz“?

Dass damals im ZDF-Vorabendprogramm auch eine Seifenoper namens „Jede Menge Leben“ zu sehen war, weiß allerdings selbst dann kein Mensch mehr, wenn man es erzählt. Oder? Und dennoch war es so: 313 Folgen lang. Fix und fertig gedreht gewesen waren sogar 63 Folgen mehr.

Kurzum: Wenn man in der Erinnerung, schnell-schnell, ein wenig vorspult, ist man im Nu im Jahr 2002, wo ZDF-Programmdirektor Thomas Bellut der Neuen Osnabrücker Zeitung sagte: „Derzeit gibt es keine konkrete Planung für eine Daily Soap im ZDF-Programm.“ Das klang vernünftig. Doch wenn wir daraufhin erneut ein wenig weiterspulen, bis zum September 2003 beispielsweise, dann antwortete derselbe Bellut in der taz auf die Frage „Daily Soap im ZDF?“ überraschend schlicht mit „Ja“.

Na ja, im Anschluss benutzte Bellut lieber das zauberhafte Wort „Telenovela“ und eine bewährte Zauberformel wie „als erster Sender in Deutschland“. Und wieder fällt’s uns ein: Ja ja, natürlich! Telenovelas wie „Die Sklavin Isaura“ hatten früher auch hierzulande viele Sender als Füllmasse im Programm. Ja, RTL 2-Chef Josef Andorfer wollte sogar mal das Senderchen „Viktoria“ erfinden, bestückt rund um die Uhr mit diesen groschenromanig-verworrenen Billigimporten aus Mittel- und Lateinamerika, die dort seit Jahren, Jahren, Jahren der absolute Knüller sind. Beziehungsweise Alltag. Wie Armut, Perspektivlosigkeit, Zivilisation etc. Tagtäglich eine kollektive kleine Flucht – und, wie man hört, auch im Osten oder Nahen Osten ein Erfolg.

Und wenn jetzt, ausgerechnet jetzt – genauer gesagt: „vom kommenden Herbst an“, wie die FAZ am Donnerstag versprach – der Mainzer Rosamunde-Pilcher-Sender ZDF tatsächlich Ernst macht mit seinen Vorabendplänen einer ureigenen Telenovela, einem ausgesprochen „eskapistischen Format“, wer dächte dann, nach kurzer Überlegung, nicht entsetzt: Ich bin in Deutschland – holt mich hier raus!

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