: Feilschen um den Favoriten
Nirgends wird über Präsidentschaftskandidaten so kompliziert abgestimmt wie im US-Staat Iowa. Beim „Caucus“ gibt es weder Stimmzettel noch Urnen
AUS DES MOINES MICHAEL STRECK
Es ist 17.30 Uhr. In der „Merrill Middle School“ am Stadtrand von Des Moines zählt Nancy Lynch noch einmal die Stühle in der Cafeteria. Rund zweihundert Leute dürften hier unter kühlem Neonlicht Platz finden. Die kleine Frau um die fünfzig ist eingefleischte Demokratin und wird in wenigen Minuten im Stimmbezirk 71 jenes Ritual mit einläuten, das in den USA nur unter dem Namen „Iowa Caucus“ bekannt ist. In dieser urdemokratischen Volksversammlung wird auf Ortsebene der Präsidentschaftskandidat bestimmt.
Über diese Zusammenkünfte, bei denen kein Stimmzettel in Wahlurnen geworfen wird, ist auch in Amerika wenig bekannt. Sie umgibt eher die Aura eines mysteriösen Geheimbundes statt transparenter Kandidatenfindung. „Viele, selbst in Iowa, haben gar keine Vorstellung, was hier abläuft“, sagt Lynch. Dabei ist der „Caucus“ in aller Munde und das politische Amerika fiebert seit Wochen auf diesen ersten Stimmungstest hin. Die Stimmung ist heiß wie noch nie, glaubt die ehrenamtliche Wahlleiterin. „Alle wollen nur das eine: Bush schlagen.“
17.45 Uhr. Die ersten Leute tauchen auf. Sie überprüfen ihre Namen in Wählerlisten. Man kennt sich, plaudert und trinkt Kaffee aus mitgebrachten Thermoskannen. Viele haben Aufkleber oder Sticker an den Jacken mit ihren Wunschkandidaten. Alles wirkt sehr familiär. Früher wurden diese Versammlungen – in Des Moines allein 100 und in ganz Iowa knapp 2.000 – in Privathäusern abgehalten. Heute finden sie in Schulen, Restaurants und Kirchen statt, da die Wohnungen zu klein geworden sind. Der wahre Grund sei jedoch, so besagt der Standardwitz, dass die Gastgeber versucht waren, Wähler mit Bier oder Kuchen zu beeinflussen.
„Die genauen Regeln werden später für alle erklärt“, sagt Lynch immer wieder geduldig zur wachsenden Menschenmenge. Ein alter Mann aus der Nachbarschaft ist zum ersten Mal hier. Trotz der minus zwanzig Grad ist er zu Fuß gekommen. Er habe sich nie groß für Politik interessiert, sagt er, aber George W. Bush mache ihn krank. Eigentlich sei er ja Republikaner, aber nun werde er sich als Demokrat registrieren lassen. Nur wer als solcher in den Wahllisten vermerkt ist, darf abstimmen.
18.15 Uhr. Der Saal ist voll. Neue Stühle werden gebracht. Aktivisten von Pro-Abtreibungs- und Umweltgruppen sind aufgetaucht, um für ihre Sache zu werben. Loran und Janet Parker, beide Anfang achtzig, quetschen sich durch die Menge an einen Tisch. Loran hat im Zweiten Weltkrieg gekämpft, war später in Bayern stationiert und verabscheut Kriege. „Ich bin so wütend auf Bush. 500 unserer Jungs sind bereits im Irak ums Leben gekommen“, sagt er erregt.
Der Mittlere Westen das unpolitische und ignorante Herz Amerikas – in dieser Schule Fehlanzeige. Jeder hat hier eine Meinung, jeder ist informiert und kann die Unterschiede zwischen den Bush-Herausforderern benennen. Das Publikum ist gemischt. Soziologisches Grundmuster: gehobene Mittelschicht. Viele Lehrer, Uni-Angestellte, Sozialarbeiter. Am Rande toben Kinder auf Plaste-Spielwiesen.
18.35 Uhr. Marc Cooper, ein bärtiger junger Mann mit blondem Zopf, eröffnet die Versammlung. Er verliest einen Mutmachbrief vom Chef der Demokratischen Partei in Iowa und gibt die genaue Teilnehmerzahl bekannt: 262. Ein Rekord. Beim den letzten Vorwahlen 2000 kamen nur 70. Cooper erläutert die Details des Rituals. Die Versammelten sollen sich nachher in „Präferenzgruppen“ für ihren Wunschkandidaten teilen. Eine solche Gruppe muss mindestens 15 Prozent der Teilnehmer um sich scharen, in diesem Fall 39 Stimmen. Reißt eine „Support-Group“ diese Hürde, haben ihre Anhänger die Möglichkeit, eine andere Gruppe und deren Favoriten zu unterstützen. Der Wahlbezirk darf 7 Delegierte zur Parteiversammlung des Bundesstaates entsenden, um die hier gewählten Kandidaten nach Proporz zu vertreten. Dort werden dann die Abgesandten von Iowa für die „Convention“ benannt, den Nominierungsparteitag im August.
19 Uhr. Kurze Pause. „Überzeugungsarbeiter“ der Hauptkontrahenten gehen herum und versuchen Unentschlossene auf ihren Kandidaten einzuschwören.
19.10 Uhr. Ein hölzerner Hammer klopft auf das Rednerpult. Cooper eröffnet das große Gedränge und Gefeilsche. Der John-Kerry-Haufen bewegt sich in die Ecke des Ausgangs. Der John-Edwards-Fanblock schart sich um den Kaffeeautomaten. Die Freunde von Howard Dean weichen in einen Nebenraum aus. Ein kleiner Trupp zieht zum gelben Dick-Gephardt-Schild. Und eine klägliche Gruppe hält Dennis Kucinich die Treue. Dann wird ausgezählt. 85 für Kerry, 81 für Edwards und 45 für Dean. Die anderen scheitern an der 15-Prozent-Hürde. Um sie darf nun geworben werden. „Es ist wie ein Kuhhandel“, sagt jemand.
19.20 Uhr. Cooper erlaubt hierfür fünf Minuten. Es entwickeln sich hitzige Debatten. Nachbarn reden auf Nachbarn ein. Politikaktivisten bearbeiten erneut die Übriggebliebenen. Andere rufen einfach quer durch den Raum. Ein junger Mann, der ursprünglich für Kucinich votierte, ist hin- und hergerissen zwischen Kerry und Edwards, bevor er sich für Kerry entscheidet. Richtig glücklich ist er damit nicht.
19.30 Uhr. Der Holzhammer fällt erneut auf das Pult. Die Gruppen werden aufgefordert, einen Sprecher zu bestimmen. Nacheinander steigen sie auf einen Stuhl und bekommen eine letzte Chance, die verbleibenden Zauderer zu überzeugen. Jeder hat eine Minute Zeit. Das Finale ist nahe. Der Kerry-Mann hält eine flammende Rede und man fragt sich, ob das aus dem Bauch kommt oder einstudiert ist. Die letzten Unschlüssigen scheinen gewonnen. Doch der Edwards-Marktschreier hat Lacher auf seiner Seite und bessere Argumente, so dass einige wieder weich werden und das Camp wechseln. Die Dean-Dame unterliegt im rhetorischen Wettstreit beinahe durch K. o. und kann froh sein, dass ihr keiner von Bord geht.
19.35 Uhr. Ein letztes Mal werden die drei übrig gebliebenen Gruppen ausgezählt. Kerry erhält 108, Edwards 98 und Dean 49 Stimmen. In den ersten beiden Gruppen bricht Jubel aus, in der letzten gibt es betretene Gesichter.
19.40 Uhr. Cooper erklärt die Wahl offiziell für beendet. Lynch telefoniert mit dem Partei-Hauptquatier und gibt das Ergebnis durch. Überwältigt von der großen Wahlbeteiligung und ein wenig matt sitzt sie dann am Tisch. Mag sein, dass die Prozedur woanders im Land als altbacken verspottet wird, sicher, sie erinnert an die Gründungstage Amerikas, möglich, dass man zur Vorbereitung eine mathematische Schulung braucht. Trotzdem lässt sich Nancy Lynch den Caucus nicht madig machen. „Das ist echte Graswurzeldemokratie.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen