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press-schlagDer tanzende Brasilianer Marcelinho gibt sich reumütig

Vom Sündenbock zum alten und neuen Liebling der Massen

Berlin, Samstag gegen Mitternacht. Der Fußballer Marcelinho hat sich in seinem funkelnagelneuen blau-weißen Hertha-BSC-Loyalitäts-Schlafanzug gerade zur Ruhe begeben und begonnen, sanft vom 6:0 gegen 1860 München und seinen beiden Toren zu träumen, da klingelt es heftig an der Tür. Verschlafen öffnet der Brasilianer und erblickt den Pressesprecher von Hertha BSC. „Los, zieh dich an, Befehl von Manager Dieter Hoeneß, du gehst jetzt sofort Samba tanzen!“ Marcelinho nickt ergeben und macht sich auf die Socken. Eine Geldstrafe pro Woche reicht dem Südamerikaner.

So ähnlich hätte es sich abspielen können, wenn man konsequent wäre bei der Berliner Hertha. Ist man aber nicht, und deshalb wird die überragende Leistung Marcelinhos gegen 1860 natürlich nicht dem Tanzbein zugeschrieben, das er letzten Sonntag nach dem 0:1 beim HSV fröhlich auf einer Karnevalsfeier schwang, sondern den nachfolgenden Disziplinierungsmaßnahmen. „Er sollte sich auf dem Platz und nicht außerhalb austoben. Das hat er gemacht“, oberlehrerte etwa Kapitän Michael Preetz, nachdem Marcelinho vom Publikum mit Ovationen verabschiedet worden war.

Sie sind schon arm dran, die Brasilianer in deutschen Landen. Läuft es gut, liegt ihnen alles zu Füßen, wenn nicht, geben sie die idealen Sündenböcke ab. Entweder sie kennen niemanden, dann gelten sie als integrationsunwillig, zickig und egoistisch, oder sie haben ein paar Kumpels, dann wird ihnen flugs Cliquenbildung, Fremdbeeinflussung und übermäßige Partylastigkeit vorgeworfen. Dabei geht es auch anders: Romário hatte einst beim FC Barcelona behauptet, er könne nur Tore schießen, wenn er zuvor die Nacht durchgetanzt habe. Der damalige Trainer Johan Cruyff akzeptierte dies klaglos – solange Romário Tore schoss.

Marcelinho hat sich gleich ein kleines Stück Brasilien mitgebracht, eine Entourage nach dem Vorbild von Diego Maradona, der einst ein ganzes ehemaliges Elendsviertel von Buenos Aires nach Europa schleppte. Gute Laune ist garantiert im Marcelinho-Clan, und es spricht für den Spieler, dass er sich diese offenbar selbst durch eine miesepetrige Vereinsführung nicht verderben lässt. Nach außen zeigte er sich reumütig, doch vergessen wird er den Anschlag auf seine Lebensfreude, den Fußballklubs in ganz Europa gewiss interessiert verfolgt haben, sicher nicht. Ein Brasilianer ohne Lizenz zum Samba, das ist schließlich wie eine Caipirinha ohne Limone.

MATTI LIESKE

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