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Geistiges Zentrum

„Eine kleine, behagliche Stadt mit einer modernen Studentenstruktur“: Die Universitätsstadt Tartu im Süden Estlands möchte an ihre große Vergangenheit als Mittler zwischen West und Ost anknüpfen

von Alexandra Frank

Eng umschlungen steht das Paar da und küsst sich. Stören lässt es sich weder von den Blitzen zahlreicher Fotoapparate noch von Wind und Wetter. Seit fünf Jahren steht der Brunnen der küssenden Studenten, um solche handelt es sich nämlich, nun schon auf dem zentralen Platz von Tartu (Dorpat). Und ist zu einem beliebten Treffpunkt geworden für Touristen und Einwohner der Stadt im Süden Estlands.

Rundherum säumen klassizistische Gebäude den Rathausmarkt, der trapezförmig zum Fluss Emajõgi (Embach) hin liegt. Darin Geschäfte oder kleine Galerien, wie im Falle des „schiefen Hauses“: Einst am unteren Ende des Platzes auf hölzernen Pfählen im feuchten Untergrund errichtet, hat es sich über die Jahre immer mehr zur Seite geneigt.

In den kleinen Straßencafés finden Besucher der Stadt auch in den Sommermonaten immer ein Plätzchen und können sich für ein paar Euro an herzhafter Kost satt essen: Eintöpfe, Kohl, Kartoffeln, Pilzgerichte, Schweinebraten und Schnitzel. Dazu gibt es für umgerechnet rund einen Euro ein Glas estnisches Fassbier, „Saku“ oder „Le Coq“, das in Tartu gebraut wird.

Ein paar Meter neben dem schiefen Haus findet sich das städtische Tourismusbüro. Wie fast überall in Tartu sprechen die Angestellten hervorragend deutsch und englisch. Seit der Unabhängigkeit Estlands 1991 entdecken auch deutsche Touristen das kleine nordbaltische Land. Und seine älteste Stadt heißt sie gerne willkommen.

„Tartu ist eine kleine, behagliche Stadt, die nicht von Touristen überlaufen ist, aber eine moderne Studentenstadtstruktur aufweist“, sagt Andres Vainumäe, Este und Besitzer des Hamburger Reisebüros Mare Baltikum Reisen. So sei das ehemalige Dorpat touristisch gut erschlossen, aber ohne Bettenburgen oder horrende Preise. „Ein gutes Zimmer lässt sich für rund 25 Euro finden“, bestätigt Rainer Neumann vom Hamburger Baltikum-Spezialisten Schnieder Reisen. Selbst gehobenere Häuser wie das „Hotel London“, eines der größeren der Stadt und nur ein paar Meter vom Rathausplatz entfernt, hat gerade mal um die 60 Zimmer.

Dass die Stadtverwaltung bei der Gestaltung des eingangs erwähnten, prominent gelegenen Brunnens ein Studentenpaar wählte, kommt nicht von ungefähr: Die Universität der Stadt, in einer schmalen Straße hinter dem Rathaus untergebracht, ist Symbol des estnischen Nationalbewusstseins. Hier fand 1869 ein wesentlicher Ausdruck des „nationalen Erwachens“ statt: das erste große Sängerfest des Baltikums, das bis heute alle fünf Jahre abgehalten wird – zum nächsten Mal im Sommer 2004 in Tallinn. Auch die heutige Nationalflagge Estlands ging aus der blau-schwarz-weißen Fahne einer Studentenverbindung aus dem Jahre 1884 hervor.

Dabei hatten an der Universität – wie im Rest des Landes – jahrhundertelang fremde Herrscher die Fäden in der Hand. 1632 von Schwedenkönig Gustav Adolf II. gegründet, gehörte sie nach einem Machtwechsel in Estland lange Zeit zum russischen Reich. Gleichwohl wurde in dem imposanten Gebäude bis Ende des 19. Jahrhunderts in deutscher Sprache gelehrt: Die russischen Zaren wollten so die Europäisierung ihres Landes vorantreiben.

Noch heute prägen Studenten das Stadtbild: Über 20.000 junge Leute studieren in der zweitgrößten Stadt Estlands und machen damit fast ein Fünftel ihrer Einwohner aus. Zwischen den Bäumen der Parkanlage nahe der Universität erinnern Skulpturen und Gebäude an bedeutende Söhne der Stadt. An den Begründer der Embryologie etwa, Karl Ernst von Baer, der die Eizelle bei Säugetieren entdeckte. Nur einen kurzen Fußweg entfernt findet sich die Sternwarte, die unter Friedrich Georg Wilhelm Struve im 19. Jahrhundert zur größten ihrer Zeit ausgebaut wurde. Auf der Spitze des Dombergs erhebt sich schließlich die gewaltige Ruine der Domkirche.

Blickt man von hier aus hinunter auf die Stadt, fällt das Auge auf den mächtigen Backsteinturm der gotischen Johanniskirche. Neben Domkirche und den Resten einer Stadtmauer am Ufer des Emajõgi bezeugt sie als einziges Gebäude die Zeit, als Tartu eine reiche, bedeutende Hansestadt war und Geschäfte zwischen Westeuropa und Nowgorod vermittelte.

1944 von sowjetischen Bomben zerstört, wird zurzeit das Innere der dreischiffigen Basilika restauriert, dazu rund 1.000 Terrakotta-Schmuckfiguren aus dem 14. Jahrhundert. Zum internationalen Hansetag 2005 soll das Gotteshaus in neuem Glanz erstrahlen. Sein Aufbau ist für die Tartuer ein Symbol ihres Selbstbewusstsein und steht für den Versuch, an die erfolgreiche Vergangenheit anzuknüpfen.

Weitere Infos bei: Schnieder Reisen, ☎ 040/380 20 60, www.baltikum24.de oder Mare Baltikum Reisen, ☎ 040/49 41 11, www.mare-baltikum-reisen.de. Die Touristeninformation in Tartu hilft Individualreisenden bei der Suche nach einer Unterkunft und informiert über Ausflugsmöglichkeiten in der Umgebung: Raekoja plats 14, ☎ 00372-7-442111, www.tartu.ee.

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