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Ich ist kein Anderer

Ein sehnsüchtiges Kind der DDR, das mit neunzehn nach Amerika reist: Ein Porträt des Berliner Lesebühnenautors und Kinder- und Jugendpsychiaters Jakob Hain, dessen zweites Buch „Formen des menschlichen Zusammenlebens“ gerade erschienen ist

von RAGNAR HOPPE

„Das kann ich auch“, denkt sich Jakob Hein, als er das erste Mal beim Mittwochsfazit am Mehringdamm sitzt und den Lesungen der angehenden Schriftsteller lauscht. Als das Mikro einen Moment lang unbesetzt ist, stellt Hein sich vor, wie es wäre, jetzt der Nächste zu sein. Zu Hause schreibt er dann sofort einige Geschichten auf und meldet sich zum Vorlesen an. Das war 1997. Jakob Hein liest seither wöchentlich auf den verschiedenen Berliner Lesebühnen aus seinen inzwischen über 300 Geschichten. Dieser Tage ist sein zweites Buch „Formen menschlichen Zusammenlebens“ erschienen, und das Manuskript für ein drittes Buch liegt bereits fertig in der Schublade. Ein beachtliches Pensum für einen 31-jährigen Familienvater, der seine Brötchen als Assistenzarzt verdient und in seiner Facharztausbildung zum Kinder- und Jugendpsychiater steckt.

So ist es kein Wunder, dass Jakob Hein während des Gesprächs ein wenig blass und unausgeschlafen auf seiner bunt gestreiften Wohnzimmercouch sitzt. Vor sich eine geblümte Tasse mit Milchkaffee, die auffälliger wirkt als Hein selbst – ein kurzhaariger, schlanker Brillenträger mit hoher Stirn, in einem verwaschenen, irgendwie graubraunen Pulli und grauer Hose. Dann aber verblasst die Tasse. Denn Jakob Hein erzählt. Nein, er sprudelt wie ein Wortquell unter Hochdruck. „Gestern Abend war in München die Premiere meines neuen Buches; es lief sehr gut. Aber ich bin eben erst zurückgekommen“, schiebt er ungefragt seine Gesichtsfarbe auf eine kurze Nacht und eine lange Rückfahrt von Bayern nach Prenzlauer Berg in die sanierte Altbauwohnung. Von Überlastung will er nichts wissen. „Sicher, im Moment häufen sich die Termine. Aber das ist ja nicht immer so.“

Jakob Hein scheint erst zufrieden, wenn er unter Volldampf steht. Seine Prioritäten aber gehören der Familie und dem Job. „Ich sitze ja nicht jede freie Minute vor dem Computer, sondern nur am Wochenende. Aber das ist mir sehr wichtig. Schreiben ist das schönste Hobby, das ich mir vorstellen kann. Ich habe mir schon als Kind Geschichten ausgedacht und meiner Mutter erzählt.“ Jakob Hein redet nicht nur gern, schnell und viel von sich, er schreibt auch so.

Auf Berlins Vorlesebühnen ist das literarische Ich Pflicht. Jakob Hein findet das auch in Büchern gut. „Warum soll ich mich verleugnen und mir irgendwelche Figuren ausdenken? Es steckt doch immer etwas von mir in den Geschichten.“ Im Mittelpunkt von „Formen menschlichen Zusammenlebens“ steht ein junger Mann aus dem Osten Berlins, der schon als Zwölfjähriger nach New York will und Anfang der Neunzigerjahre nach dem Abitur für mehrere Monate durch die USA reist. „Im Grunde sagt der Titel schon alles. Mich interessieren die Beziehungen zwischen Menschen. Der Ich-Erzähler bleibt passiv“, erklärt Jakob Hein, der während seines Medizinstudiums drei Jahre in den USA weilte.

Mit den zwischenmenschlichen Beziehungen ist das in Heins neuem Buch aber so eine Sache. Denn in jedem Kapitel tauchen neue Figuren auf, ohne bleibende Eindrücke zu hinterlassen: ein Musiker, eine Philipperin, ein Franzose, ein Schwuler und zwei Heteros, mehrere Familien, eine Hundebesitzerin, eine Studentin. Die Kontakte bleiben oberflächlich. Der einzige komplexere Charakter ist der Ich-Erzähler, der sich durch Amerika wie durch eine schöne, fremde Traumwelt treiben lässt. Er scheitert zuerst mit seinen Vokabeln, die er von Popsongs kennt, lernt die Sprache dann aber doch. Er jobbt, gammelt oder driftet, und er versteht sich mit den meisten Leuten, die ihm begegnen, weil er mit seiner Meinung hinterm Berg hält und sich allen anderen gegenüber rücksichtsvoll verhält.

„Viele Mosaiksteine formen das große Ganze“, nennt Jakob Hein sein Schreibprogramm. Wer Sonntags regelmäßig die Vorlesebühne „Heim & Welt“ im Kaffee Burger besucht, kann sich so den kleinen Jakob, den Teen-Jakob und mit seinem neuem Buch auch den halb erwachsenen Jakob zusammensetzen. „Der autobiografische Anteil ist hoch, obwohl sich nicht alles so zugetragen hat. Aber ich hätte mich wahrscheinlich auch so verhalten wie der Erzähler der Geschichten“, sagt Hein. Der gebürtige Leipziger, aufgewachsen in Treptow und Weißensee, Sohn des DDR-Schriftstellers Christoph Hein, nutzt die DDR als Rahmen für seine Bücher, macht sie aber nicht zum zentralen Thema.

In seinem ersten Buch „Mein rotes T-Shirt“ beschreibt Jakob Hein den Ost-Alltag aus der Sicht eines Kindes. Dafür hat er sich verschütteter Erinnerungen besonnen und daraus Kurzgeschichten getextet: über den Berufswunsch Komiker, über die erste Gitarre, wie man Omas um Geld anbettelt, Erfahrungen mit Gin Tonic macht oder als Außenseiter in der Raucherecke steht.

In Hains Geschichten findet man sich leicht zurecht – egal, ob man nun im Westen oder Osten aufgewachsen ist. Allerdings sind seine Texte oft mehr auf den schnellen, kleinen Lacher angelegt, als dass sie sich um Tiefe bemühen. Seine Texte wirken bewusst naiv, was aber ihren Charme ausmacht. Natürlich kennt Hain den Vorwurf, der vielen Lesebühnenautoren gemacht wird: „Im Literaturbetrieb gelten wir als amüsante Kabarettisten und werden belächelt. Das finde ich absurd“, beschwert er sich und setzt nach. „Mir ist es wichtig, als Schriftsteller wahrgenommen zu werden.“ Ein ehrgeiziges Ziel. Vielleicht aber braucht es dafür doch mehr, als nur am Wochenende gern und schnell viel Texte in den Computer zu tippen.

Jakob Hein: „Formen menschlichen Zusammenlebens“, Piper Verlag, München 2003,150 S. 12 €

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