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Spiel mir das Leben vom Dienstmädchen

Die Demokratie hat das Fernsehen erreicht: Die Zuschauer verlassen immer öfter ihre Couch und spielen mit. Nach der Familie Boro, die im „Schwarzwaldhaus“ berühmt wurde, sucht ab April eine andere Familie ihr Glück in einem Gutshaus. Ruhm und Anerkennung sind nur ein Anreiz. Die Lust am Rollenspiel ohne Rolle ein anderer. Wer aber bewirbt sich dafür? Ein Werkstattbericht vom Casting

„Eine Familie findet sich selbst und damit ihr Glück. Und wird nebenbei zum geistigen Eigentum einer Fernsehnation: Doku-Serien sind die Antwort auf die Demokratisierung des Fernsehens“

VON ANJA MAIER

Viel Unglück kommt davon, wenn man allein geht. Wenn mehrere sind, ist es schon anders. Da merke ich, wer ich bin und was ich mir vornehmen kann. Es wird überall herum um mich meine Schlacht geschlagen, ich muss aufpassen, ehe ich es merke, komm ich ran.

Alfred Döblin, „Berlin Alexanderplatz“ (1929)

Hier also gibt es Glück: in Moabit. Die Lehrter Straße zieht sich, vom neuen Berliner Hauptbahnhof kommend, parallel zum Spandauer Schifffahrtskanal. Links, in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee, hinter Gittern und Stacheldraht, sitzen die schweren Jungs. Rechts, hinter Altberliner Backsteinmauern, unterhält die Firma Erwin Rausch einen Fassgroßhandel, Hermann Leist bietet Baustoffe en gros & en detail.

In der Lehrter Straße 57, in den Räumen einer ehemaligen Uniformschneiderei, sitzt Zero Film, die Produktionsfirma, die Glück zu vergeben hat. Volker Heise, der Regisseur von „Schwarzwaldhaus 1902“, steckt mitten im Casting. Zweitausend Menschen haben sich für seine neue Produktion „1900 – Leben im Gutshaus“ beworben. Unter ihnen sind auch knapp 150 Familien, die in diesem Jahr zwei Monate lang eine mecklenburgische Gutsbesitzerfamilie werden wollen. Die als Familie herausbekommen sollen, wie man den Abend ohne Fernseher verbringt, wie und mit welchen Zutaten man ein Essen in fünf Gängen organisiert, Personal anweist oder Walzer tanzt.

„Sind Sie neugierig? Abenteuerlustig?“ Mit dieser Frage suchte die ARD Kandidaten für ihr neues Projekt – eine Familie und zwanzig Leute Personal. Nach sensationellen 20 Prozent Einschaltquote und dem Grimme-Preis fürs „Schwarzwaldhaus“ war eine Wiederauflage des äußerst erfolgreichen Zeitreise-Formats eine Selbstverständlichkeit. Doch im Gegensatz zur Berliner Familie Boro, die mit einem Vertrauensvorschuss für das Filmteam ins Jahr 1902 gereist war, wissen die „Gutshaus“-Bewerber diesmal aus dem Fernsehen, was auf sie zukommen könnte. „Sie werden mit Situationen konfrontiert, die Sie sich jetzt noch gar nicht vorstellen können“, werden die Bewerber unter http://www.daserste.de/gutshaus gewarnt. „Das Leben im Gutshaus vor hundert Jahren war keine Kleinigkeit.“

Wohl wahr. Aber eine ganze Fernsehnation hatte Ende letzten Jahres zuschauen können, wie die fünf Boros den Kaltwasserhof bewirtschafteten, wie Missernten verkraftet, Kälbchen verarztet, Hühner zum Eierlegen bewegt wurden. Wie eine Familie sich selbst und damit ihr Glück fand. Und nebenbei zum geistigen Eigentum einer Fernsehnation wurde. Der Schweizer Philosoph Vinzent Hediger nennt das Projekt „Schwarzwaldhaus“ denn auch ein Format, „das die Frage des Publikums nach der Erlebnisqualität der Vergangenheit zu beantworten versucht und historisches Verstehen als persönliches Erleben anschaulich macht“.

„Die Traumfamilie für unsere neue Staffel“, sagt Regisseur Heise, „muss stabil sein – nach innen und außen.“ Einmal zusammen durch die Hölle zu gehen, um als Familie wieder zusammenzufinden – auch diese Glückserwartung habe er bei manchem Castinggespräch herausgehört. Die werden natürlich abgelehnt, „sonst heißt der Film am Ende ,Krach in der Familie 2004‘. Die Protagonisten sollen selbstständig agieren, ihr Leben organisieren, sich der Wirklichkeit stellen.“

Auch Hediger vermutet bei Menschen, die sich bei Projekten wie „Schwarzwaldhaus“ oder „Gutshaus“ bewerben, mehr als den Wunsch nach einer öffentlich-rechtlich finanzierten Familientherapie. Eher Lust auf „ein Rollenspiel ohne Rollen“, bei dem die Zeitreisenden nicht dort wären, wo sie sind, „wenn sie nicht vom Fernsehen zu einem Spiel für die Kamera eingeladen worden wären“.

In diesem Spiel mit der Zeit kann falsch sein, was heute richtig ist. Damals zum Beispiel galt es als unhöflich, Gäste nicht immer wieder zum Essen zu nötigen. Heute weiß man: Wenn der sagt, danke, keinen Fisch für mich, ist er vielleicht Vegetarier, mag einfach keinen Fisch oder hat eine Allergie. Na gut. Um die Bewohner des Gutshauses vor derlei Fehltritte zu bewahren, hat Zero Film Experten engagiert: eine Dozentin für zeitgemäße Etikette, eine Tanzlehrerin, drei Historiker sowie zwei Rechercheurinnen, die sich um die originalgetreue Ausstattung und Einrichtung des Filmsets kümmern. „Die Liebe zum Detail kann spielentscheidend sein“, sagt Regisseur Heise. Nachlässigkeiten könnten die Glaubwürdigkeit des Projekts schmälern.

Die meisten Bewerber haben erwartbare Motive, sich bei Zero zu bewerben: Selbsterfahrung mit Rückfahrkarte und, ja, auch berühmt zu werden. Warum auch nicht? Das Erfolgsprojekt „Schwarzwaldhaus“ hat geboten, wonach sich der Akademiker genauso sehnt wie der Sozialhilfeempfänger: Ruhm, Anerkennung, die viel zitierten fünfzehn Minuten.

Doch während man bei „Vera am Mittag“ gegen zweihundert Euro Honorar sein ganzes Elend vor einer gröhlenden Studiomeute ausbreitet, kann man gewiss sein, „in der öffentlich-rechtlichen Sicherheit nicht lächerlich gemacht zu werden“, erklärt Heise. Der Medienwissenschaftler Fritz Wolf, Autor der Studie „Alles Doku – oder was!“ nennt Dokuserien-Projekte denn auch „die öffentlich-rechtliche Antwort auf ,Big Brother‘ “. Nur mit dem qualitativen Unterschied, dass sie sich „dokumentarisch, nicht voyeuristisch; offen beobachtend, nicht heimlich und anonym belauschend“ ihren Protagonisten nähern.

Dieses Qualitätsbewusstsein zieht Menschen an, die ihrer öffentlichen Wahrnehmbarkeit sonst eher zurückhaltend gegenüberstehen: die so genannte neue Mitte, Akademiker, Familien mit linkem Lebensentwurf. Dass der Ingenieur Ibrahim Boro seinerzeit vor laufender Kamera das Sensen gelernt hat, dass die Töchter Reya und Sera noch heute in Talkshows erklären, nie näher am Glück gewesen zu sein als beim Blick in den Sternenhimmel über dem Schwarzwald, bringt Professoren dazu, sich als Diener im Gutshaus zu bewerben. Lehrerinnen möchten in der Gesindeküche das alte Rouladenrezept ihrer Großmutter nachkochen, Studentinnen nach einem langen Waschtag mit von Seifenlauge verquollenen Händen auf eine Strohmatratze sinken. Selbsterfahrung eben, weit von Schicksal entfernt.

„Momentan vollzieht sich im Fernsehen ein grundlegender Wandel“, sagt Regisseur Heise. „Der Zuschauer verlässt seine Couch.“ Daily Talks wie „Arabella“, „Fliege“ oder „Vera“ seien der Anfang der Mediendemokratisierung gewesen; Doku-Soaps wie „Gutshaus“ „eine kluge Antwort“ darauf. Und Glück? Das Glück der Selbsterfahrung gäbe es dazu. Für alle, vor und hinter der Kamera. Der gelungene Dreh, „wenn das Projekt abhebt, fliegt“, ist das auch eine Glücksverheißung für Heise? „Es gab bei ,Schwarzwaldhaus‘ einen Punkt, da übernahm die Familie Boro die Show. Das war überraschend, und darauf bin ich wieder gespannt.“

Auf der Lehrter Straße, in Moabit, ist es ruhig. An den langen roten Backsteinmauern entlang geht es zurück ins Leben: Tor 2, Tor 1 am Knast sind fest geschlossen. Und bei Zero Film hat das Glück nun einen Adressaten gefunden.

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