piwik no script img

Das Paradies für sanfte Touristen

Das Kaisertal ist das letzte nur zu Fuß erreichbare Tal der österreichischen Alpen. Die Bewohner haben die Abgeschiedenheit satt und fordern eine Fahrbahn in die Außenwelt. Zum Verdruss der anreisenden Bergfreunde: Sie wollen die Idylle, den Verzicht auf Infrastrukturverbesserungen

Im altesten Hof will man von den Berhörden nicht mehr vertröstet werden Unkonventionelle Lösungen im Dienste der Anlieger sind gefordert

VON GERHARD FITZTHUM

Dreißig Menschen leben im Kaisertal. Ganzjährig. Ohne Straßenanschluss, eingekesselt zwischen den dramatischen Felslandschaften des Wilden und des Zahmen Kaisers. Wenn sie das seit 1963 unter Naturschutz stehende Hochtal verlassen wollen, fahren sie mit ihrem Auto, das sie per Seilwinde heraufgeschafft haben, auf einem Forstweg zum oberen Ende der Sparchenstiege, auf der es in einer Viertelstunde zu Fuß hinab nach Kufstein geht. Vier Schulkinder müssen täglich über den steilen Treppenweg hinunter und wieder hinauf. Auch zum Einkaufen gibt es keine Alternative. Wer absteigt, steigt unten in das zweite Auto, das jede Kaisertaler Familie hat, und fährt ins Stadtzentrum oder ins Nachbardorf Ebbs, zu dem die Höfe des Kaisertals politisch gehören. Beim Heimweg verlädt man die Einkäufe in die Materialseilbahn, die zweimal in der Woche ins Tal schwebt, geht zu Fuß hinauf, packt alles ins Auto und schafft es nach Hause, wo es ein drittes Mal ausgeladen werden muss.

Die überwiegende Mehrzahl der Einheimischen ist diesen Zustand leid, verlangt seit Jahren einen befahrbaren Weg ins Inntal und hat in Sepp Astner, dem Bürgermeister von Ebbs, einen beharrlichen Mitstreiter gefunden. Er fragt sich, ob es allen Ernstes sein könne, dass „zu Beginn des dritten Jahrtausends ein ganzes Tal von der Umwelt abgeschnitten ist“.

Als „sanfter“ Tourist kommt man jedenfalls genau dieser Mühen wegen. Die zahllosen Stufen lassen einen zwar nach Luft ringen, aber schon nach wenigen Minuten fühlt man sich in einer anderen Welt. Ein erster Aussichtspunkt: Kufstein liegt breit ausgegossen im Inntal, beherrscht von der Silhouette der berühmten Festung. Die Geräuschkulisse ist enorm: Man hört das Tosen der Brenner-Autobahn, das dunkle Rauschen der Züge und den Verkehrs- und Baustellenlärm der Stadt. Von hier oben betrachtet, hat das Getriebe der modernen Welt aber auch schon seine Unmittelbarkeit verloren.

Wie von einem Logenplatz blickt man auf die Komödie der Zivilisation hinunter. Beim Veitenhof ist der Kulissenwechsel perfekt. Der Blick fällt in die Schlucht des Kaiserbachs und auf den wilden Gegenhang, auf dem zwischen Felsabbrüchen und Geröllfeldern schütterer Nadelwald steht. Auf dieser Seite ist das Gelände kaum weniger abschüssig, sodass man die Wiesen stets nur per Hand mähen konnte. Doch wie die meisten anderen Kaisertalhöfe verwandelte sich auch der Veitenhof in ein Berggasthaus, als Anfang des 20. Jahrhunderts die Touristen in Scharen kamen. Inzwischen ist der Betrieb geschlossen, nicht jedoch wegen schlecht gehender Geschäfte. Der Wirt ist gestorben, und die Freundin des Sohns, an den der Hof nun fällt, hat wenig Lust, die Rolle einer Wirtsfrau am Ende der Welt zu spielen. Der junge Mann ist einer von fünf Kaisertaler Pendlern. Er arbeitet bei der Kufsteiner Stadtverwaltung und geht jeden Morgen die Sparchenstiege hinunter und abends wieder hinauf. Klar, dass er für eine schnellstmögliche Straßenanbindung ist. Auch am ältesten Hof des Tales, dem Hinterkaiser, will man von den Behörden nicht länger vertröstet werden. Die einzige Vollerwerbsbauernfamilie plagt sich nicht nur mit dem Hoch- und Hinunterschaffen des Viehs, sondern muss auch die tierischen Produkte allesamt selbst verarbeiten, weil die Milch von keinem Molkereiwagen abgeholt wird.

Barbara Schaffer, die aus Kufstein eingeheiratete Bäuerin, verlangt einen Verkehrsanschluss, bei dem man „keine Kosten scheut und größtmögliche Rücksicht auf die Natur nimmt“. Eine richtige Straße wolle man gar nicht, sondern nur einen befahrbaren Weg, die kleinstmögliche, ausschließlich für die Anrainer reservierte Lösung. Es gehört zu den Binsenweisheiten der Kulturgeschichte, dass die moderne Erschließung der Alpen im Dienste der städtischen Welt stattfand. Vorboten waren ab Ende des 18. Jahrhunderts die Forschungsreisenden. Dann kamen die Bergsportler des britischen Alpine Club, die den Lebens- und Wirtschaftsraum der Alpenbewohner kurzerhand zum playground of Europe erklärten. Wenig später folgten die kontinentalen Alpenvereine, die ihre Hauptaufgabe darin sahen, das europäische Hochgebirge durch Herausgabe von Literatur und den Bau von Schutzhütten und Wegen für ein neues, zumeist akademisches Publikum zu erschließen. Vollendet wurde der Zugriff von außen schließlich mit der Gründung der Arbeitersportvereinigung der Naturfreunde, die die Bergwelt nun noch für die unteren Schichten zu öffnen begann – als Ort der Erholung von „Straßenstaub und Großstadtelend“. Schnell waren, auch und gerade wegen der Touristen, Straßen und Eisenbahnlinien bis in die letzten Winkel des Gebirges gebaut, und die Bergbevölkerung sah sich vor der neuen Aufgabe, ihre Heimat als Erlebnis- und Erholungsraum für Flachländler aufzubereiten. Denem, die zu den Erschließungsgewinnern gehörten, waren die Touristen hochwillkommen. Wer nicht von ihnen profitierte, betrachtete die Entwicklung gewöhnlich skeptischer – als Unterwerfung des Alpenraums unter die städtischen Bedürfnisse nach Erholung, Sport und Abenteuer.

An der Ausrichtung nach außen hat sich seither nichts geändert. Geändert haben sich aber die Interessen und Erwartungen der anreisenden Bergfreunde. Die meisten verlangen nicht länger den weiteren Ausbau, sondern – gerade im Gegenteil – den Verzicht auf jede Infrastrukturverbesserung. Gesucht wird nun das unerschlossene Tal, jenes, in das keine Straße führt, in dem es nicht von Touristen wimmelt und wo sich auch die Einheimischen dem urbanen Faible für Ursprünglichkeit und Abgeschiedenheit fügen. Man erwartet von den Berglern, auf jene Errungenschaft zu verzichten, die überall sonst selbstverständlich ist – die Errungenschaft der automobilen Mobilität.

Dieser Konflikt zwischen internem Streben nach Mobilitätsfortschritt und externer Sehnsucht nach Entwicklungsstillstand schwelt seit Jahren im Kufsteiner Kaisertal. Freilich dürfte es noch etwas dauern, bis der Wunsch der Kaisertaler in Erfüllung geht. Denn mit der Mehrzahl der Kufsteiner, dem Deutschen Alpenverein (DAV) und seinem österreichischen Pendant, dem OeAV, gibt es mächtige Gegner, die auf die Einhaltung des Naturschutzgesetzes pochen, das eine bessere Erreichbarkeit für Autos nicht vorsieht. Um die Zustimmung von Kufstein kommt man nicht herum, weil die Bezirksstadt der größte Grundeigentümer im Kaisertal ist. Aber auch die Naturfreunde und Alpenvereine, die zwischen Zahmem und Wildem Kaiser immerhin fünf Hütten betreiben, wollen ein Wörtchen mitreden. Die Sektion Oberland des Deutschen Alpenvereins hat schon in den Dreißigerjahren große Sperrgrundstücke im Gebiet der Vorderkaiserfeldenhütte gekauft. Fünf Jahrzehnte ist die Straßenanbindung nun im Gespräch, immer wieder wurden neue Pläne gewälzt und stets verworfen. Schließlich liegt das Kaisertal in einem Naturschutzgebiet. Die Stadt Kufstein, die hier der größte Grundbesitzer ist, plädierte jahrelang für den Bau einer Anrainerseilbahn – eine preisgünstigere Lösung, für die auch die Alpenvereine sind und die Mehrheit der Kufsteiner Bürger. Sie möchten sich das Kaisertal als stadtnahe Nische der Ruhe erhalten und befürchten nach dem Bau einer Anliegerstraße mit Sperrschranke eine „wundersame Schlüsselvermehrung“.

Für Norbert Wolf, den Landesnaturschutzreferenten des OeAV, sind diese Bedenken berechtigt: Man habe einmal überschlagen, dass ohnehin mindestens zweihundert Schlüssel herausgegeben werden müssten: an Grundbesitzer, Lieferanten, Behördenvertreter, Taxidienste und Holzabfuhrfirmen. Es sei ja völlig absurd, den ins Tal gerufenen Handwerker nach dem Bau einer Straße noch zu Fuß gehen zu lassen und sein Werkzeug mit der alten Materialseilbahn heraufzuschaffen. Der Ebbser Bürgermeister würde mit seinen Jagdgästen irgendwann genauso hinauffahren wie der Großindustrielle, der Jagdpächter des Kaisertals ist und einen auf seinem Gut wohnenden Aufsichtsjäger angestellt hat. Auch würde es dann wohl plötzlich viele Wanderer mit verknackstem Fuß oder mit zu viel Gepäck geben, die sich von ihrem Wirt aus dem Tal fahren ließen. Eine vorhandene Straße nicht zu nutzen gehört nunmal zu den schwierigsten Übungen einer auf freier Mobilität gegründeten Gesellschaft.

Außerdem könnte sich die Unterhaltung einer steilen und lawinengefährdeten Bergstraße schnell als unbezahlbar erweisen, was die Kaisertaler früher oder später dazu zwingen würde, sie für Touristen zu öffnen, um die Kosten über Mautgebühren abzufangen.

Es wäre falsch, von den Talbewohnern jenen Enthusiasmus zu erwarten, mit dem der Gast auf dieses Paradies blickt. Schließlich kommt der Rettungshubschrauber nur bei guter Sicht, wird jeder Einkauf zum unfreiwilligen Fitnesstraining und der Besuch beim Friseur zur Halbtagesreise. Um die Kaisertaler zu überzeugen, wird es etwas mehr brauchen als die schwärmerische Rechtfertigung des Status quo. Ein Meinungsumschwung wäre nur genau dann zu erwarten, wenn auch bei den touristischen Nutzern des Tals ein Umdenken stattfindet, wenn also die Freizeitgesellschaft, die sich den Luxus straßenfreier Täler leisten zu können meint, zu begreifen beginnt, dass dieser nicht zum Nulltarif zu haben ist. Statt lediglich Zeit gewinnen zu wollen, müsste sie unkonventionelle Lösungen im Dienste der Anlieger suchen und diese aktiv umsetzen. Dahin freilich scheint der Weg im Kaisergebirge noch weit. Bislang jedenfalls müssen die Gastwirte jährlich noch 400 bis 500 Euro für die Nutzung des Lastenaufzugs an die Stadt Kufstein zahlen. Und auch der finanzstarke DAV ist trotz seiner kritischen Beschäftigung mit dem Kaisertaler Verkehrsproblem noch nicht auf die Idee gekommen, Geld für die befürwortete Seilbahn zu sammeln. All das dürfte die Bergler in der vertrauten Annahme bestärken, dass sie sich wieder einmal Interessen fügen sollen, die von außen an sie herangetragen werden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen