: Mitten in Europa
Wirtschaftlich wird Berlin von der Osterweiterung kaum profitieren. Kulturell aber ist es längst eine Metropole geworden. Fünf Porträts von Wanderern zwischen Ost und West von UWE RADA
Der Lebenskünstler
Wenn man Mateusz Hartwich nach seiner Heimat fragt, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen. „Breslau“, sagt er. „Ich bin ein Breslauer in Berlin.“ Das klingt eindeutig, ein Verweis auf Herkunfts- und Aufenthaltsort, Migration eben. Doch der 25-jährige Mateusz Hartwich ist alles andere als ein klassischer Migrant. „Das Schönste an Berlin“, sagt er augenzwinkernd, „ist, dass man hier den Polen einfach aus dem Weg gehen kann.“
Das war in Frankfurt (Oder) und Słubice nicht so. 1998 kam Hartwich aus Breslau in die Grenzdoppelstadt, um an der Viadrina Kulturwissenschaften zu studieren. Erst lebte er auf der polnischen, dann auf der deutschen Seite.
Seit einem halben Jahr ist er nun in Berlin. Das, was er in Frankfurt und Słubice gelernt hat, braucht man auch in der deutschen Hauptstadt, glaubt Hartwich. Es zog ihn eben weiter, zurück zog es ihn nicht. „In Breslau hätte ich bestenfalls einen Job für 1.000 Złoty bekommen und wieder bei meinen Eltern einziehen müssen. Darauf hatte ich keine Lust.“
Das Leben, sagt Hartwich leise, halte etwas anderes für ihn bereit.
Es ist keine Arroganz, die aus solchen Worten spricht. Eher das Selbstbewusstsein eines Menschen, der schon in Frankfurt und Słubice viel auf die Beine gestellt hat. Das Grenzlandfestival „Pogranicze“ war so ein Projekt oder die kleinen Feuilletons im Internetportal www.slubice.de, die Hartwich abwechselnd mit Felix Ackermann und Bernd Vogenbeck geschrieben hat.
Und nicht zuletzt ist da auch die Agentur „Piktogram“, mit der Hartwich und seine Kompagnons ihr Geld verdienen. Piktogram – mit einem „m“ wie Hartwich betont, weil mit „mm“ wäre es deutsch – macht alles, Texte, Übersetzungen, Grafik. Mit der Herstellung polnischer Werbezettel für Karstadt haben sie angefangen, jetzt sitzt „Piktogram“ auch beim Kulturland Brandenburg mit im Boot. Und ist, wie auch Mateusz Hartwich, nach Berlin gezogen.
Wenn Hartwich über Berlin spricht, klingt das nicht nach Euphorie. Eher sachlich. Dass man hier alle Möglichkeiten habe, seinen Weg zu gehen, dass Berlin auch für die Polen eine kulturelle Metropole sei, dass er zum ersten Mal 1998 in die Stadt gekommen sei, zur Love Parade. Berlin ist für einen Europäer wie Hartwich, der neben Deutsch auch Spanisch und Englisch spricht, nicht das Ziel aller Träume. Und Berlin muss etwas tun, damit Europäer wie er nicht weiterziehen, nach London oder Madrid. „Offiziell darf ich hier nämlich gar nicht arbeiten“, sagt Hartwich. Auch das klingt selbstbewusst. Nicht er schuldet der Stadt etwas, die Stadt schuldet auch ihm etwas.
Vorerst aber will Hartwich bleiben. Und wer weiß, vielleicht wird aus der Beziehung mit der neuen Heimat ja auch mal eine Liebesbeziehung. „Ich bin zwar ein Breslauer in Berlin“, sagt Hartwich, „aber einer, der sich hier verdammt wohl fühlt.“
Die Dialogkünstler
Eigentlich hatten sich Anne Peschken und Marek Pisarsky in Kreuzberg gut eingerichtet. In der Skalitzer Straße haben sie mit „Urbanart“ eine nicht ganz unbekannte Galerie betrieben, in der Manteuffelstraße haben sie ihr Zuhause gefunden, samt „urbanem Dschungel“ im Hinterhof, wie sie sagen.
Doch dann kam der Fall der Mauer und mit ihm die Zeit der Veränderungen. Auch Anne und Marek zog es plötzlich aufs Land, und so kam es, dass die beiden eines Tages am Küchentisch ihrer Kreuzberger Wohnung auf einer Landkarte einen Kreis um Berlin zogen und feststellten, wie nahe die Stadt an Polen liegt.
Das wäre an sich nichts Ungewöhnliches, wäre Marek nicht in Polen geboren worden.
13 Jahre war Marek Pisarsky alt, als er mit seinen Eltern vom schlesischen Nowy Bytom nach Westdeutschland übersiedelte. Anders als sein älterer Bruder, der zu Hause noch Deutsch gelernt hatte, war Marek nur polnisch aufgewachsen, und plötzlich war er nicht nur in Deutschland, plötzlich sollte er auch Deutscher sein.
Seit einigen Jahren nun lebt er wieder in Polen. Anne und er haben in Sobienice bei Myślibórz einen Bauernhof gekauft. Seitdem pendeln sie: zwischen Stadt und Land, Deutschland und Polen und zwischen verschiedenen Kunstszenen. Denn der Kunst sind sie treu geblieben. Im Juni laden sie 19 Künstler aus aller Welt nach Kostrzyn ein, um die Ruine der ehemaligen Festung Küstrin zu bespielen. „Dialog Loci“ heißt das Projekt, zuvor haben sie in Myślibórz den „Dialog der Dinge“ inszeniert.
Marek Pisarsky und Anne Peschken haben mit ihren Dialogen die Gegenrichtung eingeschlagen. Während es viele Künstler und Kreative aus Polen, den baltischen Ländern und Russland nach Berlin, oder weiter nach Paris oder London zieht, haben sich die beiden Berliner auf den Weg nach Polen gemacht. Das verändert natürlich auch die Perspektiven. „Die Leute bei uns im Dorf leben teilweise von der Hand in den Mund“, sagt Anne. „Für die ist es ein Riesending, wenn wir denen einen alten Durchlauferhitzer aus der Stadt mitbringen.“
Auch in ihrer Beziehung zueinander hat es diesen Perspektivwechsel gegeben. Während Marek meist mit einem deutschen Blick auf Polen schaut, nimmt Anne nicht selten die polnische Perspektive ein. Vielleicht ist das auch nicht schwierig, wenn man in Montreal geboren ist und in England Abitur gemacht hat. Als Bewohnerin von Sobienice bei Myślibórz schreibt die 37-Jährige manchmal auch für die lokale Geschichtszeitung Z biegiem Myśli. Es ist wohl nicht nur die Suche nach Heimat, die es ihr angetan hat, sondern auch der Name dieser Zeitschrift. „Z biegiem Myśli“ ist nicht eindeutig zu übersetzen. Es heißt „Mit dem Lauf des Flusses Myśl“ ebenso wie „Mit dem Lauf der Gedanken“.
Der Grenzkünstler
Zwischen Poznań und Potsdam, das ist für Michael Kurzwelly fast schon Programm. Nicht nur, weil der gebürtige Bonner acht Jahre lang in der westpolnischen Metropole gelebt und dort das Kunstzentrum geleitet hat. Auch mit Potsdam verbindet ihn etwas. Mehrere Monate lang pendelte er zwischen Frankfurt (Oder), wo er nun lebt, und der brandenburgischen Landeshauptstadt, um dort Telekom-Mitarbeiter in Polnisch zu unterrichten.
Zwischen Poznań und Potsdam heißt deshalb auch das Künstlerportal, das der 40-jährige Kurzwelly aufgebaut und mittlerweile ins Netz gestellt hat. Unter www.artpp.net kann sich jeder eintragen, dem Vernetzung ganz geheuer ist und der über seinen Tellerrand hinausschauen möchte.
Über den Tellerrand hinausschauen – nirgendwo ist dies besser möglich als in Frankfurt und Słubice. Nirgendwo aber lässt es sich auch so gut im eigenen Saft schmoren wie in den beiden Grenzstädten. Es ist das Nebeneinander von Grenzgängern und Grenzschützern, die für Michael Kurzwelly noch immer die Spannung bietet, die er für seine Projekte braucht. Vor allem dann, wenn es nicht nur darum geht, Mauern einzureißen, sondern auch, wieder welche aufzubauen. „Słubfurt-Citywall“ heißt das neue Vorhaben, in dem er auf den Gemarkungen von Frankfurt und Słubice die Grenzen von „Słubfurt“ erkunden möchte, jener Stadt also, deren Einwohner auf beiden Seiten des Flusses leben und in beiden Sprachen zu Hause sind.
Im Projekt von Kurzwelly ist „Słubfurt“ schon ganz real geworden. Nicht nur eine Stadtmauer gibt es, sondern auch einen Bürgermeister, eine „Touristen-Information“ und jede Menge Werbematerial. Auch eine grenzüberschreitende Stadt braucht ihr Standortmarketing.
Und dann gibt es auch den „Słubfurt“-Informationsbus, mit dem Kurzwelly demnächst auf Reisen gehen wird, auch nach Berlin. In der Kulturbrauerei wird er dann für die virtuelle Stadt an der Oder werben, die für viele ihrer Bewohner, darunter die Studenten der Viadrina und des Collegium Polonicum, längst eine reale ist.
Die Medienkünstlerin
Wenn Anna Zosik nicht noch diesen leisen, ganz sanften Dialekt sprechen wurde, würde man ihre Herkunft nicht erkennen. Die 35-Jährige ist Berlinerin durch und durch, oder besser gesagt: Neuberlinerin. Seit neun Jahren lebt sie inzwischen in der Stadt, die ihr etwas bietet, was nicht viele Städte können. Sie lässt ihr Raum. Raum für ihr Leben, Raum für die Fotografie, Raum, sich mit den wirklichen Fragen zu beschäftigen. Wer bin ich? Woher komme ich? Wo gehe ich hin?
Im Gorki Theater zeigt Anna Zosik derzeit Dia-Arbeiten, die im letzten Jahr in der städtischen Galerie in Jelenia Góra schon als Fotoausstellung zu sehen waren. „… und dennoch auch ich …“ lautet der Titel der Schau, der auf ein Gedicht von Cyprian Kamil Norwid zurückgeht. „Und dennoch auch ich / habe so viel Land / wie mein Fuß bedeckt / solange ich gehe“.
Mit diesen Worten auf einer Tafel hat Anna Zosik unzählige Menschen fotografiert. Doch eigentlich war sie es selbst, die dieses Schild in Gedanken trug, über viele Jahre hinweg. Immer wieder hat sie sich die Frage gestellt: „Wo ist mein Land? Ist es nur das kleine Stück unter meinen Füßen? Ist das denn Reichtum – eine Bewegung?“
Heute sind diese Fragen nicht mehr so drängend. Heute weiß Anna Zosik auch, was Ankunft heißt, Ankunft in einer Stadt, die ihr Bewegung ermöglicht. „Ich habe einen Job, den mache ich zwei Tage die Woche, den Rest der Zeit arbeite ich an meinen Projekten.“ In Jelenia Góra, wo sie geboren würde, würde das nicht funktionieren, sagt Zosik, nicht einmal in Breslau. „Da würde ich wie die meisten acht oder neun Stunden ackern, um zu sehen, wo ich bleibe.“
Anna Zosik ist, wie gesagt, Berlinerin. Nicht mehr die Wanderschaft oder das Thema Heimat treibt sie um, sondern die Frage, was einen Menschen einzigartig macht im Vergleich zu den anderen. Nichts hätte das besser illustrieren können als eine Installation in der Zionskirche. Auf der einen Seite der Kirche ließ sie die Sitzbänke stehen, auf die andere stellte sie einzelne Stühle, beschriftet mit den Namen der Kirchgänger. „Ich wollte wissen, ob die Muster, die immer wieder Allgemeingültigkeit behaupten, auch wirklich zu den einzelnen Personen passen.“
Fragen sind das, die stellt man sich nicht nur in Polen. Für Anna Zosik macht es deshalb keinen Unterschied, ob sie aus Breslau, wo sie Fotografie studiert hat, nach Berlin kam – oder wie viele ihrer Mitstipendiaten, die sie dann an der Universität der Künste kennen gelernt hat, aus Bremen oder Stuttgart.
Die Suche, die sie alle vorantreibt, ist keine Frage der nationalen Zugehörigkeit mehr. Heimat ist in ihr kein Zustand, den man hat, oder an dem man zweifelt, sondern ein Identitätsmerkmal, das es sich ständig zu erarbeiten gilt.
Dennoch spielen Ethnien in Berlin auch für Anna Zosik eine Rolle. Es ist ihr bloßes Vorhandensein, das sie spüren lässt, dass sie in einer richtigen Stadt lebt. „In Breslau ist alles polnisch“, sagt sie. „Berlin dagegen ist multikulturell.“
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