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Etienne ist krank

Lustbarkeiten und High-Tech: Unterschiedlichkeit ist Programm für die Stipendiaten der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums. Zum Schluss wurde vorgelesen

Jungschriftsteller haben es nicht leicht im alten Europa. Während in den Vereinigten Staaten an jeder Uni die „Creative Writing“-Kurse sprießen, muss der Debütant hierzulande die blaue Blume des Schreibens meistens allein suchen. Der amerikanische Literaturbetrieb setzt schon seit Gründung des legendären Iowa Writers’ Workshop im Jahr 1939 darauf, dass man Techniken des Schreibens lernen kann. In Deutschland durfte es da lange ein wenig romantischer sein. Dichter wurden als geborene Genies vom göttlichen Hauch der Inspiration gestreift oder fielen, in den letzten Jahren wenigstens, als Popliteraten aus dem heiteren Himmel.

Doch mittlerweile gibt es immer mehr Institutionen, die angehenden Autoren praktische Hilfestellungen geben. Bekanntestes Beispiel dafür ist das 1995 gegründete Leipziger Literaturinstitut. Auch die seit 1997 bestehende „Autorenwerkstatt Prosa“ des Literarischen Colloquiums Berlin versteht sich als Ausbildungseinrichtung und brachte Entdeckungen wie Judith Hermann hervor.

Am Freitag fand die Abschlusslesung der diesjährigen Werkstatt statt. Acht Jungautoren arbeiteten zwischen September und Dezember 2002 hier an ihren Texten, unterstützt durch ein Stipendium der Senatsverwaltung und begleitet von Mentoren wie Durs Grünbein oder Volker Braun. „Finissage“ stand auf der Einladung, und die schöne Villa am Wannsee mit untergehender Sonne und holzgetäfelten Wänden machte schnell klar, dass es in diesem Haus nicht nur um schnöde Techniken des Metaphernbaus gehen kann.

Gleich der erste vorgetragene Text „Das Pier“ von Thorsten Becker machte Donald Rumsfelds abwertender Rede vom „alten Europa“ alle Ehre. Beckers Roman spielt um die Jahrhundertwende (wohlgemerkt die um 1900) und in der Einleitung heißt es: „Etienne ist krank. So genau weiß man nicht, was ihm fehlt, die Ärzte diagnostizierten eine Überwachtheit des Apperzeptionsapparates, die sich in der seismographischen Sensibilität der Wahrnehmung niederschlägt.“ Nun ja, warum nicht, denkt man zuerst. Etienne wohnt in Paris, wird dann zur Gesundung an die französische Kanalküste geschickt, wo er die Haute volée und den feinsinnigen Julien trifft. Spätestens bei Sätzen wie: „Und nun, kleiner Seraphim, warum haben Sie mich hergeführt? Sind es die Lustbarkeiten hinter den erleuchteten Sprossenfenstern …“ ringt man verzweifelt mit der in sich aufsteigenden Sehnsucht nach pragmatischen Texten anglo-amerikanischen Zuschnitts. Will man das wirklich von einem um die 30-jährigen Nachwuchsautor lesen?

Die nachfolgenden Texte überraschten dann mit unterschiedlichen Stilen und Themen. So schilderte Erika Anna Markmiller in ihrem Romanauszug „Fuge rückwärts“ die klaustrophobischen Innenwelten des süddeutschen Katholizismus, während die 1963 in der Volksrepublik geborene Danxia Luo eine Geschichte aus dem High-Tech-China der Gegenwart aus ihrer Erzählsammlung „Du fliegst jetzt für meinen Sohn aus dem fünften Stock!“ las. Das schwebend-melancholische Lebensgefühl der Berliner Nachwendezeit fand sich in einer sprachlich sehr schönen Kurzgeschichte von Larissa Boehnings wieder.

Die große Bandbreite ist gewollt. „Die Autoren sollen zwar gemeinsam ihre Arbeiten entwickeln, aber wir wollen keinen bestimmten Stil fördern“, sagt Thorsten Dönges, der neben den diesjährigen Leitern der Autorenwerkstatt – Thomas Geiger und Dieter Stolz – für die Auswahl verantwortlich war. Offenbar eine kluge Entscheidung. Zwei Verlage haben schon zugegriffen. Larissa Boehnings Erzählband „Schwalbensommer“ und Ulla Lenzes Roman „Schwester und Bruder“ erscheinen beide im Herbst. SUSANNE LÖHR

Bewerbungsschluss für die Autorenwerkstatt 2003 ist der 15. Mai. Infos unter: www.lcb.de

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