: Zur Wahl ist jedes Mittel recht
von DOMINIC JOHNSONund HAKEEM JIMO (Lagos)
Marshall Harrys Mörder waren sich ihrer Sache sehr sicher. Die vier bewaffneten Männer gingen gegen drei Uhr morgens zur Dienstresidenz des Vizevorsitzenden der größten nigerianischen Oppositionspartei ANPP (All Nigeria People’s Party) in der Hauptstadt Abuja und fesselten den Nachtwächter. Im Schlafzimmer wurde Harry erschossen. Der Überfall dauerte eine Stunde. Das Polizeihauptquartier der Hauptstadt liegt nur wenige Minuten zu Fuß entfernt, und ein Passant schlug sogar Alarm. Aber die Polizei reagierte nicht. Begründung: Benzinmangel.
Der Mord am 5. März war symptomatisch dafür, wie wenig sich Nigerias politische Kultur verändert hat, seit 1999 die letzte Militärherrschaft zu Ende ging und unter dem gewählten Präsidenten Olusegun Obasanjo eine zivile Demokratie errichtet wurde. Vor den jetzigen Wahlen, die der Konsolidierung der jungen Demokratie dienen sollen, zählt die US-Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ (HRW) hunderte Tote und tausende Vertriebene im Zusammenhang mit Streitereien um die Kandidatenfindung innerhalb der Parteien.
Nigerias Wahl 2003, die am vergangenen Samstag mit Parlamentswahlen begann und diesen Samstag mit der Präsidentschaftswahl ihren Höhepunkt erreicht, ist von immenser Bedeutung. Noch nie hat eine Demokratie in Nigeria ihren zweiten Wahlgang überlebt (siehe Kasten). Kaum auszudenken, was diesmal bei einer Wiederholung der Geschichte passieren könnte, zu einer Zeit, in der Nigeria in schlechterem Zustand scheint als je zuvor.
Die Hälfte der über 120 Millionen Nigerianer ist jünger als 18 Jahre und kennt nur Rechtlosigkeit und Verarmung. Ihre Perspektiven: Kriminalität oder Anheuern in einer der immer zahlreicheren privaten Milizen. Der Lebensstandard in Nigeria ist heute geringer als vor Beginn der Ölförderung in den 70er-Jahren und sank auch seit der Demokratisierung 1999 weiter; letztes Jahr war auch das Wirtschaftswachstum negativ.
Politische Gewalt hat in Nigeria in den letzten vier Jahren Demokratie mehr Opfer gefordert als in den vorangegangenen 15 Jahren Militärdiktatur. Auf insgesamt 10.000 Tote kam im August 2002 ein gemeinsamer Bericht von 60 nigerianischen Menschenrechtsorganisationen – vor allem bei ethnisch-religiösen Konflikten im Zusammenhang mit der Einführung des islamischen Scharia-Strafrechts im Norden, im Krieg in den Ölfeldern des Nigerdeltas und bei Landkonflikten im Osten Nigerias. Mehrmals machten dabei Soldaten ganze Städte dem Erdboden gleich. Die Gruppen empfahlen die Entsendung von UN-Menschenrechtsbeobachtern.
Als die EU, die den Bericht finanziert hatte, Exemplare davon nach Nigeria schickte, wurden sie vom Zoll beschlagnahmt. Wenige Wochen später aber bestätigte Nigerias Polizeichef Tafa Balogun hohe Opferzahlen und sprach darüber hinaus von 1.713.306 Vertriebenen seit 1999 – Ergebnis eines „unglaublichen Anstiegs sporadischer Konflikte und illegaler Aktivitäten ethnischer Milizen“.
In Nigeria gilt Politik immer noch als Spiel auf Leben und Tod. Der Gewinner bekommt alles, der Verlierer muss sich auf magere Jahre gefasst machen. „Amtsträger nutzen ihr Amt als Reich, in dem sie öffentliche Gelder zu privater Bereicherung oder zum Aufbau eines Klientelnetzwerkes veruntreuen“, analysiert Olly Owen vom nigerianisch-britischen „Centre for Democracy and Development“. „Politik wird zu einem für Außenstehende unzugänglichen Wettbewerb, in dem etablierte Unterhändler lukrative Posten unter sich aufteilen.“
Paradoxerweise wird der Streit um Ämter umso gewaltsamer, je weniger die Leute mit einem erneuten Militärputsch rechnen. „Wenn die Angst vor einem Putsch schwindet und das Überleben des Zivilregimes gesichert scheint, geht es bei Wahlen um immer mehr“, erläutert Daniel Stroux, Leiter der UN-Langzeitwahlbeobachter in Nigeria. „Wahlämter sind heute einer der schnellsten und einträglichsten Wege zu Prestige und Reichtum. Politische Morde sind ein schneller Weg, Konkurrenten auszuschalten.“
Vor allem auf der Ebene der Gouverneurswahlen – die mächtigen Gouverneure der 36 Bundesstaaten werden ebenso wie der Präsident am kommenden Samstag neu gewählt – wird der politische Wettkampf zu einem Krieg hochstilisiert, in dem alle Mittel recht sind.
Die Militärs sind gut in die neue Demokratie eingebunden. Die große Anzahl an Exmilitärs mit Ehrgeiz im neuen politischen Gefüge ist ein Garant für das Weiterleben der Demokratie. Die drei chancenreichsten Kandidaten zur Präsidentschaftswahl trugen früher selbst Generalssterne: Amtsinhaber Olusegun Obasanjo vom südwestlichen Yoruba-Volk, der 1976–79 als Diktator regierte und 1999 als Zivilist die Diktatur ablöste; Hauptgegner Muhammadu Buhari aus dem muslimischen Norden, Diktator 1983–85 und Kandidat der konservativen ANPP; und Chukwuemeka Ojukwu, 1967–70 Führer des Sezessionsstaates „Biafra“ des südöstlichen Igbo-Volkes, der jedoch in den Umfragen weit abgeschlagen ist.
Dass Obasanjo gewinnt, scheint trotz der mageren Bilanz seiner Amtszeit sicher. Buhari gilt als Verkörperung des unverhohlenen nördlichen Machtanspruchs auf Kosten des Südens. Während seiner Herrschaft 1983–85 verschwanden Milliarden, während die Generäle Soldaten in Behördenbüros schickten, um die Pünktlichkeit zu kontrollieren, und Leute verhaftet wurden, wenn sie auf der Straße urinierten. Unter Militärherrscher Sani Abacha (1993–98), dem brutalsten der nigerianischen Diktatoren, verwaltete Buhari den staatlichen Ölfonds – heute gibt er sich als Saubermann, während er zugleich die Zusammenarbeit mit Nigerias Wahrheitskommission verweigert, die in den letzten Jahren die Verbrechen der Militärdiktaturen untersuchte.
Obasanjo hat sich diesmal die Loyalität seines eigenen Yoruba-Volkes gesichert, das 1999 noch mehrheitlich gegen ihn stimmte, weil er als Kandidat der Militärs galt. Die in und um Lagos dominierende AD (Alliance for Democracy) stellt heute keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten mehr auf.
Das ist bei Aktivisten der früheren Demokratiebewegung umstritten, aus deren Reihen die AD einst hervorging. Viele von ihnen haben sich jetzt in der NCP (National Conscience Party) zusammengeschlossen, die den Menschenrechtsanwalt Gani Fawehinmi zur Präsidentschaftswahl aufstellt. Er kommt in Umfragen allerdings nur auf 5 Prozent.
Die Zukunft Nigerias entscheidet sich anderswo: im Nigerdelta, wo das Öl gefordert wird, das Nigeria zum sechstgrößten Ölexporteur der Welt macht. In den vergangenen Monaten hat sich dort ein bislang ungekannter Widerstand lokaler Milizen formiert. Regelmäßig werden Installationen der Ölmultis besetzt und Arbeiter entführt. In der Ölhafenstadt Warri verhinderten die Milizen bereits die Parlamentswahlen. Die kampfbereiten Völker des Nigerdelta erhoffen sich nichts von Wahlen. Sie rüsten sich für die Zeit danach.
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