eject: SILKE BURMESTER über Damenkränzchen, Pressekrisen und hanseatische Gemütlichkeit
Was kostet die Welt?
Als wir das Restaurant betreten, bin ich enttäuscht. „Wann kommen denn die jungen Männer?“, möchte ich fragen, mit Betonung auf dem Adjektiv. Doch an diesem Abend kommen keine jungen Männer. Fast nicht. Wir haben uns ein Lokal für unsere kleine Festivität gewählt, in dem ab 20 Uhr alle Tische für den Rest des Abends mit mittelalten Paaren besetzt sind und das derart hanseatische Gediegenheit verströmt, dass nicht einmal der obligatorische, halb blinde Rosenverkäufer seinen Fuß in die Tür setzt.
Aber wir haben etwas zu feiern und dafür sucht man sich eben einen Ort wie diesen. Meine Freundin Sylvia nämlich hatte mal ein Problem. Sie war mit einem Mann zusammen, mit dem sie nicht nur den weltbesten Sex hatte, sondern den sie auch noch mit anderen Frauen teilen musste. Über die Qualität dieser körperlichen Zusammenkünfte ist nichts bekannt, aber da sie diesen Mann liebte, wollte sie gern die Einzige sein. Leider war das schwierig, weil der Mann es für sein Ego brauchte, immer und immer wieder Frauen zu erobern.
Und weil meine Freundin Journalistin ist, eine Art auf- den-Grund-Geherin also, hat sie ganz viel dazu recherchiert und ein Buch über das Phänomen des Casanovas geschrieben. Und weil sie das so toll gemacht hat und weil sie so super Rezensionen bekommen hat und zum Glück ihre Niere nicht herausgenommen werden musste, sitzen wir mitten in Hamburg in diesem schönen österreichischen Lokal und reden fast ein bisschen zu laut über das, was Frauen besprechen, wenn sie zu dritt sind ohne Herren am Tisch.
Es ist ein schöner Abend, bis zu dem Moment, als die Tür aufgeht und ein junger Mann die Szenerie betritt, der all das Elend unserer modernen, in ihren ökonomischen Zielen gescheiterten Gesellschaft vertritt: ein Herr im gediegenen Jackett und dunkler Hose mit einem Stapel Zeitungen im Arm. Ein Welt-Verkäufer.
Kann man Menschen Bildung ansehen? Er jedenfalls sieht gebildet aus. Trägt eine etwas zu lang gewachsene Kurzhaarfrisur, die er mit Sicherheit hinföhnen muss und die CDU-Mitglieder bis Mitte der 90er-Jahre mit einem dezent karierten Jackett kombinierten. Heute tragen so was die Schill-Anhänger.
Trotz dieser politischen Variante macht sein Anblick mir fast die gleichen Gefühle, die ich sonst empfinde, wenn ich einst gefeierte osteuropäische Staatsorchester für ein paar Cents in der Einkaufspassage spielen sehe. „Oh Gott“, flüstere ich meiner Freundin zu, „der ist bestimmt Akademiker!“ Wie tragisch, denke ich. Wie erniedrigend. Wie viel angenehmer ist da doch ein Rosenverkäufer, dessen Elend so viel leichter zu fassen ist. Aber die arme Sau ist hier richtig: Drei graue Herren kaufen ihm sein Blättchen ab. Ein paar Minuten später sehe ich ihn wieder. Ohne Zeitungen. Er steht am Tresen des kleinen Lokals und genießt einen Rotwein. So ist das also, wenn man durch die Läden zieht, um Die Welt zu verkaufen.
Aber irgendwas stimmt nicht an diesem Straßenhändler ohne Tasche, ohne Outfit, das ihn als Welt-Verkäufer ausweist. Und die Erkenntnis, die nun folgt, ist fast noch gruseliger als die Armer-Akademiker-Variante: Das ist kein Straßenverkäufer. Das ist ein Welt-Redakteur, der mühsam nach Dienstschluss ein paar Exemplare vertickt, um seinen Arbeitsplatz zu retten.
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