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Die chinesische Seele

Was hat der Fisch davon, wenn er aus dem Schwarm ausschert? Nichts als Schwierigkeiten. Kann die Verabredung mit der bekannten Fernsehpsychologin das Geheimnis ein wenig lüften?

VON STEFAN SCHOMANN

Ich habe einen Freund, der von sich sagt, er sei Pessimist. Für einen Chinesen eine bemerkenswerte Feststellung. Alle Übrigen, die ich in Peking getroffen habe, haben sich nie als etwas bezeichnet, schon gar nicht als etwas so Schwieriges wie einen Pessimisten. Wenn überhaupt, würden sie sich vereinzelt als Realisten, ganz vereinzelt vielleicht sogar als Optimisten sehen. Schließlich brummt die Wirtschaft und strotzt das Land, Chinesen gehen im Weltraum spazieren und haben im Medaillenspiegel den ersten Platz belegt.

Doch eigentlich tut man das in China nicht: sich als etwas bezeichnen. Man macht überhaupt kein Aufhebens von sich, schon gar nicht vereinzelt. Was hat der Fisch davon, wenn er aus dem Schwarm ausschert? Nichts als Schwierigkeiten. Nein, lieber bleibt man im Schutz der Allgemeinheit. Man strebt nicht nach draußen, sondern ins Zentrum, ins Reich der Mitte.

Ich habe eine Freundin, die von sich sagt, sie täte nichts. Für eine Ausländerin in Peking eine bemerkenswerte Feststellung. Alle Übrigen, die ich dort getroffen habe, tun immerfort alles Mögliche. Beraten ein Ministerium, leiten ein Institut, handeln mit Antiquitäten, schreiben ein Buch, bereiten Schüler auf die Deutsch-Olympiade vor oder studieren Chinesisch, um dann später ein Ministerium beraten oder mit Antiquitäten handeln zu können. Sie aber winkt ab – nein, ich tue nichts. Neulich hat sie die Chinesen als Marsmenschen auf Erden bezeichnet. Sie darf das sagen, sie liebt China, lebt seit vielen Jahren dort. Aber sie fragt eben nicht danach, was man sagen darf und was nicht.

Um die Rätsel der chinesischen Seele ein wenig zu lüften, habe ich mich schließlich mit Jinyi Bi verabredet, einer bekannten Fernsehpsychologin. Was wahrscheinlich eine Tautologie darstellt, denn unbekannte Fernsehpsychologinnen dürfte es kaum geben. Sie lud mich zum Mittagessen in ihrer Nachbarschaft ein, „nichts Besonderes, nur ein paar Häppchen“. Tofu, Teigtaschen, Pilze, ein bisschen Schwein, ein bisschen Huhn. Und scharfen Fisch, versteht sich. Dazu verschiedene Gemüse, Pekinger Allerlei. Jinyi erwies sich als eine resolute, lebenstüchtige, wohlgenährte Frau um die vierzig. Sie handelt nebenbei mit Antiquitäten und schreibt gerade an ihrem dritten Buch, berät aber zur Abwechslung kein Ministerium, sondern Liebes- und Ehepaare, sofern sich diese eben so weit zu vereinzeln trauen, dass sie ihre Nöte vor laufender Kamera auf den Tisch legen.

Wobei sie laut Jinyi so individualistisch gar nicht sind. Denn bei 85 Prozent aller Partnerschaften gehe es um das Gleiche. Um Liebe? Falsch. Um Sex? Auch falsch. Um Macht vielleicht, oder um Eifersucht, oder um die grässliche, nicht auszuhaltende Einsamkeit, die andernfalls droht? Alles falsch, beschied sie in ihrer forschen Art, während sie nach den Lotoswurzeln angelte. Bei 85 Prozent aller Partnerschaften gehe es ums Geld. Nicht immer offensichtlich vielleicht, und nicht immer gleich von Anfang an, aber unausweichlich.

Jinyi griff sich einen Löffel, drehte ihn um und strich mit der hohlen Hand darüber hin. „So fühlt sich eine gute Beziehung an. Rund und geschmeidig. Du bleibst nirgendwo hängen, du verletzt dich nicht.“ Ein schönes Bild, lächelte ich. „Eine schöne Illusion“, erwiderte sie und rangierte den Löffel aus. „Neun von zehn Ehen sind wie Gabeln oder Messer.“

Eine Ehe ist nichts weiter als ein Joint Venture

Bis dahin lebte ich in der Vorstellung, eine Partnerschaft, eine Ehe gar, stelle ein lustvolles Bündnis zwischen zwei Individuen dar. Doch Jinyi öffnete mir die Augen: Eine Ehe ist ein Joint Venture zwischen zwei Familien. Punktum. Ein Geschäft zum beiderseitigen Vorteil, das jedoch leicht zum beiderseitigen Nachteil gereichen kann. Ihr Menschenbild ist durch fünfzehn Jahre als Scheidungsanwältin geprägt. Wie das mit dem Antiquitätenhandel, den Psychoratgebern und der Fernsehshow zusammengeht? Ach, meinte sie, multiple Karrieren seien inzwischen nichts Besonderes mehr, schon gar nicht für Frauen.

Womit wir beim nächsten Problem waren: Chinas Frauen sind heute viel unabhängiger als früher. Das behagt den Männern nicht. Wozu werden sie überhaupt noch gebraucht? Jinyi schielte kurz nach dem Löffel, zuckte dann jedoch mit den Schultern. Fest steht: Die Männer stecken in der Krise. Denn was tun sie, kaum dass sie etwas Geld gescheffelt haben? Sie kaufen ein Auto? Falsch. Sie gehen auf Reisen? Auch falsch. Nein, sie legen sich eine Geliebte zu. Wie zur Feudalzeit und noch in den Jahren der Republik. Nicht etwa zum Spaß, obwohl man das nicht ganz ausschließen sollte. Sondern aus Pflichtgefühl. „Mehr Geld, mehr Sex“, erklärte Jinyi und schob mir die geschnetzelten Schweinelenden zu. Ab einem gewissen Status werde das einfach erwartet.

Während ich über meinen Status und die damit einhergehenden Verpflichtungen nachsann, fragte Jinyi, ob wir nicht doch noch Nudeln bestellen sollten? Au ja, ermunterte ich sie, obwohl ich längst satt und zufrieden war. Doch wie das alte Sprichwort sagt: Keine Liebe ist aufrichtiger als die zu gutem Essen.

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