: Wie Leverkusen wiederbeleben
aus Leverkusen BERND MÜLLENDER (Text)und KARLHEINZ JARDNER (Fotos)
Fußball-Bundesligist Bayer Leverkusen steht vier Spieltage vor Saisonende auf einem Abstiegsplatz. Alle sportlichen Rettungsmaßnahmen scheinen ausgeschöpft. Wer nur kann Bayer retten, den Club, der noch im Vorjahr als tragisch dreifacher Vize die Herzen rührte und Deutschland mit tollem Offensivfußball und berauschenden Europapokalnächten verzückte? Gibt es keine Rettungsprofis vor Ort? Ein erster Versuch im Web unter www.gelbeseiten.de bringt ein erschütterndes Ergebnis: „In Leverkusen wurde zu ,Rettung‘ kein Ergebnis gefunden.“
Das kann nicht sein! Wir machen uns sofort auf den Weg dorthin. Als Erstes suchen wir einen Erste-Hilfe-Kurs. Frau Braun vom Roten Kreuz winkt ab: „Leider läuft zur Zeit keiner.“ Das Gleiche beim Malteser Hilfsdienst. Aber Dienststellenleiter Stefan Onkelbach (31) formuliert sofort eine Solidaritätsadresse: „Die Malteser aus Leverkusen stehen auf Seite von Bayer.“ Der Club habe „genau wie wir schon so viele Situationen gemeistert“. Auch wenn gevizemeistert passender wäre – Onkelbach sagt: „In jedem Fall gilt: In Notfallsituationen immer Ruhe bewahren!“
Auf dem Hof der Leverkusener Hauptfeuerwache übt gerade ein Tauchlehrgang. Brandmeister Michael Wingender (35) rät als Notfallexperte: „Man muss den Spielern mehr Feuer unterm Hintern machen.“ Er gibt zu, dass ihm diese Formulierung als hauptberuflichem Feuerbekämpfer „wirklich nicht leicht fällt“. Wingender weiß zu beruhigen: „Wir löschen auch in der zweiten Liga.“ Verein und Stadt könnten sich auf ihre Feuerwehrleute verlassen, auch wenn einzelne von ihnen, wie sie offen zugeben, eher Anhänger des 1. FC Köln sind: Man könne sich, sagt ein Lehrgangsteilnehmer, „ja brennende Häuser auch nicht aussuchen“.
Abstiegspanik therapieren
In der Stadt fällt auf, wie viele Hotels, Versicherungsbüros und immer wieder Matratzengeschäfte Leverkusen hat. Ist die Stadt zu gemütlich, zu satt, zu risikoscheu? Wie geht Leverkusen mit der Abstiegspanik um?
Am städtischen Sorgentelefon meldet sich eine Frau vom Jugendamt. „Ich würde raten, beim [Manager] Calmund anzurufen und mit dem die Sorgen zu teilen.“ Das Drogentelefon der Stadt ist ununterbrochen besetzt: Wahrscheinlich blockieren fußballsüchtige Fans die Leitung, weil sie Angst vor dem kalten Bundesliga-Entzug haben. Doch zwei spontane Besuchsversuche in Psychotherapiepraxen scheitern: Niemand macht auf. Eine Gemeinschaftspraxis bietet Paartherapie an (Kohler/Hörster?), eine andere Gruppentherapie. Da könnte die komplette Elf hin.
Was sagen Leverkusens Apotheker? Schließlich gehen Bayerwerk und die Stadt selbst auf den Pharmazeuten Carl Leverkus zurück. Hilft Aspirin? Im Ortsteil Schlebusch treffen wir Alfred Graf von Schlieffen, Inhaber der Marien-Apotheke. Er arbeitet mit vielen Topsportlern, etwa der Marathonläuferin Melanie Kraus zusammen. Bei den Bayer-Kickern, sagt er, liege es „in allererster Linie an der psychologischen Verfassung und fehlender mentaler Harmonie“. Natürlich, sagt Graf von Schlieffen fast empört, zittere auch er mit, ob das noch klappt mit Bayers Klassenziel. Als Nachfahre des preußischen Generalfeldmarschalls hat der 58-Jährige einen eigenen Plan: Sein medizinisches Nahrungsergänzungsmittel „Die Rezeptur für Sieger“ – mit Mikronährstoffen, Radikalenfängern und sekundären Pflanzenstoffen gegen oxidativen Stress, alles nach dem orthomolekularen Prinzip. „Ich vergleiche die Situation mit Glaubenskriegen. Wenn die Spieler kämpfen bis zum Letzten, schaffen sie es noch.“
Im örtlichen Telefonbuch machen wir eine sensationelle Entdeckung. „U. Lattek, Regensburger Straße 7“. Das wird doch nicht … Statt des Fasttrainers Udo Lattek meldet sich eine Frau. „Zu Fußball kann ich nichts sagen“, sagt sie. Gut, sie habe „nun mal den Namen“ und sei sogar „weitläufig verwandt mit dem Udo. Aber den sollten alle in Ruhe lassen“, wünscht sie sich, „das ist doch ein alter Mann.“ Nein, Frau Lattek, es geht um Sie! Was raten Sie? „Was?“ Einen Gesprächstermin lehnt U. Lattek partout ab. Auch ihren Vornamen (Ursula? Ulrike?) will sie nicht verraten. Ob sie nicht ersatzweise helfen könne, innerfamiliär quasi? „Ich, helfen?“ Sie legt auf.
Bayer 04 glaubt bis heute, das große Problem sei seine Unerfahrenheit im Existenzkampf. Dabei kann der Club lernen – vor der eigenen Haustür. Kaum zwei Kilometer von der BayArena entfernt spielt der SV Schlebusch. Der Landesligist war im Vorjahr „in der gleichen Situation: akute Abstiegsgefahr“, erzählt uns Jürgen Heinzel (54), der 1. Vorsitzende. „Und wir haben es mit einem sehr rasanten Endspurt noch geschafft.“ Nur, wie? „Wir haben ganz einfach Fußball gespielt, zweckorientiert. Und eben noch drei, vier Spiele gewonnen.“ Was für eine Parallele! Was würde er raten? „Ich würde Bayer sagen: Nur ruhig Blut! Nicht von der Presse verrückt machen lassen. Den Spielern sagen: Ihr könnt es doch! Auch mit einem Psychologen arbeiten: Den hatten wir im Vorjahr auch.“ Wie würde er in der Kabine motivieren? „Ich würden den Spielern ganz klar sagen: Wenn ihr vom Platz kommt, müsst ihr kotzen!“
Bayer-Trainer Thomas Hörster hat nach seiner Profikarriere ein Jahr beim SV Schlebusch gespielt. Da muss Heinzel doch wissen, ob Hörster der richtige ist. „Er ist … sagen wir: Er weiß, dass der Ball rund ist.“
Leverkusen ist auch auf den Worst Case vorbereitet. Lothar Müller-Kohlenberg (61), Leiter des örtlichen Arbeitsamtes, gibt zwar zu, dass er „keine speziellen Erfahrungen“ mit erwerbslosen Kickern hat. Wohl aber kann er schon „die Berufskennziffer für Fußballer“ mitteilen: 8383. Einen speziellen Sachbearbeiter gibt es aber nicht: „Das geht nach Anfangsbuchstaben.“ Wir recherchieren vor: Jörg Butt etwa müsste in den 3. Stock, Boris Zivkovic in den 2. Das Amt ist gleich neben dem Bahnhof Mitte. Parkplätze vorhanden. Geöffnet werktags ab 7.30 Uhr.
Reueessen in der BayArena
Der General Manager des Ramada-Hotel, Joachim Pöpping (55), hat sich für den Todesfall in Liga 1 Gedanken über den Leichenschmaus gemacht, der in Leverkusen „Reueessen“ heißt. „Es müsste auf jeden Fall im Stadion stattfinden – mit dem Versprechen, sich ein Jahr später zum Wiederaufstiegsessen zu treffen. Vielleicht macht man für die Fans besser ein Reuetrinken, oder serviert gefrorenes Kölsch am Stiel, auf jeden Fall etwas Unvergessliches. Egal wie geschockt und traurig alle sind: Das Positive muss immer erkennbar sein. Man sollte einen großen Trainer wie Alex Ferguson oder Louis van Gaal einladen, der noch mal erzählt, wie großartig es mit Bayer in der Champions League war.“ Ein Trainer als Beerdigungsredner? „Ja, die könnten helfen, den Schmerz ins Positive zu drehen.“
Auch in der Leverkusener Bevölkerung schlummern Rettungspotenziale. Wir schlendern durch die Fußgängerzone. Wo man fragt, sagen die Menschen: „Die schaffen das noch!“. Helfen würden die Fußpflegerinnen, sie würden salben und kneten für den perfekten Torschuss. Das Reiterbedarfs-Geschäft würde Glück bringende Hufeisen stiften, der Schornsteinfeger sich selbst. Fans sollen schon Fürbitte-Kerzen entzündet haben – ausgerechnet nebenan in der vorbotenen Stadt, im Kölner Dom!
Alle tun was. Da schmerzt es umso mehr, dass wir immer, wenn wir eine Frau allein unterwegs sehen, einen Reflex nicht unterdrücken können: Ob das wohl Frau Lattek ist? Diese hier im Cafe? Die da beim Schuhkauf? Vertrödelt hier ihre Zeit, statt zu helfen! Eine Schande!
Kurioserweise verschließt sich ausgerechnet die Bayer Fußball GmbH den neuen Ideen. Meinolf Sprink, Sportbeauftragter der Bayer AG, damit Bindeglied zwischen Club und Werk, also der Stadt, glaubt allen Ernstes, es gehe uns „zu viel um das Humoreske“. Er weigert sich, uns telefonisch mit der Werksfeuerwehr zu verbinden. Nein, sagt Sprink, die Idee finde er „gar nicht sexy. Das lehne ich ab. Da werde ich knochig.“
Bedauerlich. Nicht dass Bayer 04, ohnehin gespickt mit Funktionsträgern vieler Art, nach der Lachnummer um Udo Lattek auf die allerletzte Verzweiflungs-Idee kommt und als neuen Kommunikationsdirektor Mohammed Said al-Sahhaf verpflichtet. Der untergetauchte irakische Informationsminister („Es gibt keine Amerikaner in Bagdad“) könnte in Leverkusen nahtlos weiterarbeiten: „Es gibt keine Absteiger. Glauben Sie mir, ich habe Erfahrung in Untergängen, die keine sind. Tabellen sind Teufelswerk der Ungläubigen. Wir werden alle Gegner vernichten und noch Vizemeister. Insch’allah.“
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