piwik no script img

Öffnungen gegen die ganze Welt

Körperbetont und exkrementell: Beim Kurzfestival in Bremen gibt sich das Theater Spaniens kompromisslos

Von Robert Best und Benno Schirrmeister

Es bleibt nur die Hölle: Nicht wie einst die Heilige von Avila zwischen Erde und Himmel, aber doch gekreuzigt und erfüllt vom Brand ihrer Stigmata, findet die Mystikerin des 21. Jahrhunderts ihren Platz auf der Schwelle. Aus dem Off spricht ihre Stimme eine Litanei: „Mein Körper ist mein Protest“ ist ihr Kehrvers. Ihr Körper und ihre „Entscheidung keine Kinder zu bekommen“. Zugleich wirft, links, ein Projektor Dias an die Wand: Ein vergilbtes Familienfoto ist auf allen zu sehen – böse blasphemisch im Unrat drapiert. Und Angélica Lidell robbt sich, die Füße in Gipskloben gegossen, maskiert mit dem Mädchengesicht vom Foto, über die Bühne – das entblößte Geschlecht dem Publikum stets entgegen gereckt, es mit Steinen verrammelnd: Santa Teresa de la Vagina.

Extremfigur der iberischen Bühnenwelt, trat Lidell am vergangenen Wochenende erstmals in Deutschland auf – in Bremen, anlässlich des Kompaktfestivals „Europäisches Theater“. Gewidmet war es Spanien, und das ist bereits keine kleine Nachricht: Denn, während Romane von jenseits der Pyrenäen häufig auch den internationalen Büchermarkt aufmischen, glänzen spanische Dramatiker seit García Lorca (1899-1936) auf deutschen Bühnen nur durch Abwesenheit. Und nicht bloß auf denen: „Das meiste, was geschrieben wird“, so Luis Miguel González Cruz, Kritiker der Fachzeitschrift Primer Acto, „wandert in die Schublade.“

Der Grund: Spanien hat den Theatertod bereits hinter sich. Öffentliche Bühnen? Nada, bis auf Barcelona und Madrid. Aber während das katalanische Nationaltheater immerhin einen Saal für Gegenwartsautoren reserviert, pflegt man in der Hauptstadt das klassische Repertoire. Und Theater, das nicht – oder nur von freien Kleinst-Truppen – gezeigt wird, findet kaum einen Übersetzer. Ausnahmen gibt es: So hat sich der Berliner Henschel-Verlag die Rechte an den Stücken des 1940 geborenen Boulevardschreibers Josep M. Bernet i Jornet gesichert. Sie sind also leicht verfügbar – was seiner altersseichten Groteske „Slips“ in Bremen zur deutschen Erstaufführung verhalf – ein abschreckender Festival-Auftakt.

Doch hat man beim Bremer Theater auch die Schubladen der Autoren aufgeräumt und, geleitet von der Hispanistik der Uni-Gießen, die freie Szene sondiert. Das Ergebnis: vier neue Übertragungen nicht einmal mehr ganz so junger Autoren. Darunter wurde mit einem eigens gestifteten Übersetzerpreis ausgezeichnet Thomas Sauerteigs feinsinnige Übertragung von „Oasis“: Ein von dem 1965 geborenen Carles Batlle in Katalanisch verfasstes, fragmentiertes Spiel der Erinnerungen, die sich zu Zeugnissen eines in den Tiefen lauernden Hasses zwischen Xavier und seinem Adoptiv-Bruder Raschid verdichten. Nicht zuletzt die szenische Lesung dieses Werks belegte, dass die Franco-Doktrin der Andersartigkeit Spaniens endgültig durch eine Europa-orientierte Kultur abgeschüttelt wurde, ohne die Eigenständigkeit in Themen und Motivwahl zu verlieren: Terror und Familie beschäftigen die postdramatisch-komplexe Bühnen-Poesie Spaniens am meisten.

Leben kann Theater aber nur auf der Bühne. Und in bedrängter Lage nur in Form von szenischem Extremismus: Das bewies nicht nur Lidells spätabendlicher Auftritt. Den Ehrentitel „Theaterterroristen“ verdient auch Rodrigo Garcias Gruppe La Carnicería Teatro (in etwa: Das Metzgerei-Theater). Mit Ich habe einen Spaten bei Ikea gekauft, um mein Grab zu schaufeln beendete sie das Festival radikal – und konterte zugleich den Abschluss-Charakter ihres Gastspiels aus: „Selbst jemand, der seinen Krebs besiegt hat, fängt die ganze Scheiße wieder von vorn an. Sogar der Tod, wenn du ihm entronnen bist, lässt dich kein anderes Leben leben.“

Das Thema: Was wohl passiert, wenn unverhofft die Anarchie angeordnet würde. Der Konsum geht weiter, die Maschinen laufen noch, die Tiefkühllasagne isst sich auch nicht von allein. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und Wiederkäuer seiner Produkte. Fressen, kotzen, fressen.

Das Ensemble schmiert sich mit allem ein, was bei der Hand und vorher im Mund war. Lecker; besonders, wenn Patricia Lamas und Juan Loriente, ein romantisches Dinner persiflierend, sich langsam Pasta und Würste in Vulva respektive Anus schieben. Man liebt sich nicht, man konsumiert sich. Der Mensch als Selbstzweck? Von wegen! Kultur ist Machtkampf. „Wozu sind Fotos gut?“, fragt Loriente, „Souvenirs? Nonsens, um anderen zu zeigen: Da war ich, und du nicht.“ Ausgrenzung zieht sich durch Sprache, Gesten, Rituale: Wenn am Ende auf der Bühne ein Weihnachtsbaum angezündet wird, löscht man die Flammen nur, um den Gestank nicht vollkommen unerträglich zu machen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen