: Getriebensein und schweigendes Blau
Rimbaud in einem lauwarmen Musikbad weich gespült: An der Opéra Bastille wurde Matthias Pintschers „L‘Espace dernier“ uraufgeführt
Er schreibe, sagte Matthias Pintscher zum Figaro, „um gespielt zu werden“. Dafür schuf er sich denkbar beste Voraussetzungen, indem er in die ästhetische Schule des Wirtschaftswunderkomponisten Hans-Werner Henze ging und sich von Manfred Trojahn ausbilden ließ – Literaturoper mit effektvoll-illustrierender und deutsch-deutender Musik war angesagt. Die Semper-Oper in Dresden präsentierte 1998 „Thomas Chatterton“ (nach Hans Henny Jahnn). Doch Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ hatte parallel dazu nicht nur einen Meilenstein der Musikgeschichte gesetzt, sondern in den Opernhauptstädten auch noch ganz unerwarteten Succès gehabt. Daraufhin entdeckte Pintscher flugs, dass auch Lachenmann Ahnherr seines Tondichtens und Theatertrachtens sei. Er schrieb „L’Espace dernier“, eine Auftragsarbeit für den scheidenden Generaldirektor der Pariser Oper, Hugues Gall.
Texte sollten die Welt aus den Angeln heben – Arthur Rimbaud steht als vieldeutig faszinierende Figur am Anfang der literarischen Moderne. Seine 1875 explosiv hervortretende Sprachgewalt profilierte sich durch die Dissonanzen zwischen Sinngehalt und Klangmelodie, durch Revoltieren und Entgrenzung, Kommunarden- und Boheme-Erfahrung, durch Snobismus und Mystizismus, Fragmentierung und Zerstörung: „Pourquoi l’azur muet?“ – viele Fragen! Aber eben auch Aufbruch in frische Leidenschaft und neuen Lärm. Rimbauds Oeuvre – in wenigen Jahren aufs Papier geschleudert – wies den Symbolisten ebenso Wege wie den Expressionisten, den Surrealisten wie den Beatpoeten ein Jahrhundert nach dem „Skandal“, den er bedeutete. Georg Trakl und Paul Claudel, Stefan George und Antonin Artaud, André Breton und Paul Celan knüpften an seine Gedichte an und setzten in unterschiedliche Richtungen fort.
Die Biografie hat es in sich. Ob er tatsächlich, und wenn, in welchem Umfang, an den Kämpfen der Commune von Paris teilnahm, wird sich wohl kaum mehr klären lassen. Rimbaud machte Skandal durch sein homosexuelles Verhältnis mit Paul Verlaine. Er schrieb wie wahnsinnig – und hörte ebenso abrupt damit wieder auf; wandte sich dem Reisen zu, dem Zirkus, dem exotischen Afrika und dem Waffenhandel für den Negus.
Seit Jahren zeigt sich der Komponist Matthias Pintscher fasziniert vom prallen Leben und der kantigen Dichtung Rimbauds. Beidem widmete er „L’Espace dernier“ – ein Musiktheater, das keine Oper mehr sein will. Schon gar keine mit einem gediegenen Libretto. Sondern mit Textsplittern aus dem dichterischen Werk Rimbauds, vor allem dem Gedicht Départ („Abreise“), aus Tagebuchnotizen der Schwestern Vitalie und Isabelle sowie dem schwarzen Reisebegleiter Djami zugeschrieben. Es geht um Getriebensein, um schweigendes Blau, um den unergründlichen Raum, um Abreise. Um den letzten Ort des Ortlosen.
Es klingt, obwohl es sich an den Grenzen des Verzweiflungswürdigen bewegt, alles sehr schön. Die zahlreiche Instrumentalistenschar ist teils im Graben, teils in einem erhöhten Käfig an der rechten Bühnenflanke untergebracht, aber auch auf den Balkons im Zuschauerraum. Sie spielt sich die Motivbälle über die räumlichen Distanzen hinweg zu, macht die Weite der Entfernungen hörbar und sogar die Leere. Das Dramatische aber, so meint der Komponist, müsse im Kopf jedes einzelnen Hörers entstehen. Dafür ist die Form eines szenischen Konzerts, wie es Kwamé Ryan und Alejo Perez in der Opéra Bastille leiteten, durchaus hinreichend.
Michael Simon bebilderte das dunkel raunende Oratorium mit mancherlei Anspielungen auf neuere Kunstgeschichte (die an Schiffsflanken erinnernden Großobjekte, die die weite Spielfläche als variablen Raum einfassten, schienen aus der Werkstatt des amerikanischen Bildhauers Richard Serra zu stammen). Der Regisseur arbeitete drastisch mit Helldunkelkontrasten, mannigfaltigen Schattenspielen und videogespendeten Wortkaskaden. Der Frauenchor, ganz in Weiß, unterstreicht die epische Komponente, die doch dem verständlichen Wort weithin misstraut. Ohne Erwähnung bleiben die real revolutionären Anfänge der Rimbaud-Biografie. Freilich klammert Pintscher auch die kunstrevolutionären Momente, das Aufsässige der Texte aus. So scheint die bessere Hälfte des Unternehmens vergeigt. Rimbauds Sache wurde kleinbürgerlich domestiziert und vergleichgültigt in der großen lauwarmen Musikwanne. Ganz nach dem Motto des Komponisten: „Wo Leere ist, ist Rimbaud.“ FRIEDER REININGHAUS
Weitere Termine: 3., 6. und 9. März
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen