: Ein neues Lied
Das SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH
Nach dem markigen Kanzlerwort in den frühen Nachrichten habe ich erst mal Bruce Springsteen aufgelegt. Die Ballade von dem Mann um die fünfzig, vor der rostigen Werkshalle in Ohio. Hier im Rostgürtel haben wir l803 den ersten Hochofen gebaut, singt er, den Stahl für die Kanonen gegossen, mit denen wir den Bürgerkrieg gegen die Sklaventreiber gewannen, und für die Panzer, mit denen wir Hitler kleinkriegten. Die verdammten Schornsteine rauchten und rauchten, wuchsen in den Himmel wie die Arme Gottes. Und dann … ach, die Geschichte ist immer dieselbe, jetzt kommen sie und sagen: Globalisierung, sorry Jungs, Schluss, aus. Und dabei waren wir es, die sie reich gemacht haben – so reich, dass sie jetzt uns und unsre Namen vergessen. Und unsere Geschichte dazu.
Die Amerikaner haben’s eben drauf, hab ich immer gedacht, wenn Bruce Springsteen seine Ballade vom Standortsterben in Youngtown sang. Wir bringen das nicht, habe ich gedacht, bei uns sagt höchstens mal ein emeritierter Bundespräsident: „Die Wirtschaft verlässt das Land und lässt die Menschen und die Politik zurück.“
Aber nun, nach diesen Frühnachrichten, bringen wir es. Jetzt wird es fetzig. Vorbei die Zeiten, in denen Helmut Schulte-Noellen dem Kanzler mit dem Umzug der Allianz nach London drohte, falls die Regierung die Rücklagen besteuert, die Versicherungsbranche ankündigte, keine deutschen Staatsanleihen mehr zu kaufen – und der Kanzler umgehend die Boykotteure im Kanzleramt empfing, das Vorhaben abblies und obendrein die Veräußerungsgewinne von der Steuer freistellte.
Denn nun hat Gerhard Schröder – endlich – die Antwort gegeben. Kaum hatte DIHK-Präsident Braun wieder einmal mit der Auswanderung deutschen Geldes und deutscher Maschinen in Niedriglohnzonen gedroht, da schoss es aus dem Kanzleramt zurück: Das sei ein „unpatriotischer Akt“. Und der neue Generalsekretär Klaus-Uwe Benneter legte kräftig nach: eine Führungskraft der deutschen Wirtschaft, die so rede, handle „unanständig und verantwortungslos“.
Genau das ist der Ton, habe ich gedacht, als die starken Worte aus dem Radio kamen.
Eine neue Standortdebatte beginnt: das „deutsche Modell“ wird zum nationalen Erbe erklärt, den Wirtschaftsdeserteuren werden die Bundesverdienstkreuze aberkannt, Steuerflucht wird endlich als das gebrandmarkt, was sie ist: ökonomische Fahnenflucht. Entlassungen werden als Dolchstoß an der Heimatfront angeprangert, und die Verlagerung von Produktionsanlagen in ferne Kontinente als Hochverrat. Und alles unter dem Jubel der Bild-Zeitung, die den Kanzler wieder in die Arme nimmt.
Natürlich muss man dem Appell an den Patriotismus ein wenig nachhelfen. Auch hier waren ja die pragmatischen Amerikaner äußerst einfallsreich: etwa, als Präsident Roosevelt verfügte, alle Firmen, die mit den Gewerkschaften kooperierten, dürften den „White Eagle“, den US-Adler, auf ihr Produkt drucken. Den Rest erledigten die amerikanischen Konsumenten. Markt kann demokratisch sein: der solidarische Bundesadler, nicht nur auf der Markenbutter, wäre wahrscheinlich stark verkaufsfördernd. Und das ganze kulturell grundiert mit ein paar Liedern, die an die Großväter und Väter erinnern, die mehrfach auf die Revolution verzichteten, immer wieder ins große deutsche Bündnis für Arbeit einwilligten, nicht nur die Bosse reich machten, sondern den Wohlstand und den öffentlichen Reichtum des Landes – Schulen, Bibliotheken, billige Wohnungen und Krankenkassen – erarbeiteten. Die, nach all den Katastrophen, dies Land wieder zum Exportweltmeister gemacht haben. Zu einem reichen Land, aus dem das große Kapital jetzt flüchtet.
Die Springsteen-CD war abgelaufen, ich kam langsam wieder runter. Und die Selbstzensur meldete sich zu Wort. „Das sind doch Tresengespräche aus den immer noch nicht internationalisierten, Latte-macchiato-freien Zonen“, sagte sie. Und: „dumpfer Nationalismus“. Und dann der Hammer, das P-Wort: „Protektionismus! Hast du vergessen, dass der Reichtum der Nationen auf dem freien Welthandel beruht, den komparativen Kostenvorteilen und so weiter, dass der Weg zurück ins Elend führt?“
Ich zuckte zusammen, nahm eine lange Dusche und wurde ganz langsam wieder nüchtern: Die Theorie vom freien Welthandel und vom Wohlstand der Nationen, die Adam Smith und David Ricardo vor zweihundert Jahren entwickelten und die jeden Tag in der FAZ steht, beruhte, so erinnerte ich mich, auf zwei Voraussetzungen: dass Kapital und Arbeit nicht mobil sind. Es waren Handelstheorien, aber die Globalisierung, die heute den Staaten die Steuern und den Bürgern die Arbeitsplätze nimmt, ist schon lange nicht mehr die des Handels allein, sondern aller Produktionsfaktoren. Und wenn nicht zwischen dem freien Fluss der Güter (Markt!) und der globalen Dislozierung aller Produktionsfaktoren unterschieden wird, dann wird theoretisch kein Lohnverzicht und kein weiterer Abbau des Sozialstaats und keine Steuersenkung verhindern, dass in den nächsten Jahrzehnten nicht nur die Zusammenschraub- und Textiljobs verschwinden, sondern auch die der Feinmechaniker, der Werkzeugbauer, der Zahnlaboranten.
Es hat ja erst angefangen: ein amerikanisches Versicherungsunternehmen hat jüngst angekündigt, seine Softwarespezialisten (die 150.000 Dollar im Jahr verdienen) durch indische zu ersetzen, die es für 20.000 machen. Es wird erwartet, dass die Zahl der Röntgenärzte in den USA signifikant sinken wird, weil viele Medizinunternehmen schon jetzt die X-Rays von asiatischen Radiologen – per Internet – analysieren lassen.
Nationale Gefühle – auch der Mittelschichten – sind die Reaktionen darauf und werden es immer stärker werden, und nicht alles an ihnen ist dumpf.
Was not tut, sind nicht patriotische Gesänge, sondern eine wirkliche Umbesinnung: eine politische – und wissenschaftliche – Debatte über eine internationale Handelsordnung, die alle Staaten reicher macht, eine Re-Regionalisierung der Wirtschaft, die eine Spaltung in High-Tech-Gegenden und weiße Flecken verhindert, ein demokratische Reform, die den Staaten – oder auch den Regionen oder Europa – die Souveränität zurückgibt, Steuern zu erheben und Infrastrukturpolitik zu betreiben. Das ist ein großes Vorhaben, ein sehr großes. In den theoretischen Organen auch der Sozialdemokratie, in den Protesten der linken Flügel aller Parteien aller G-7-Länder wird es seit Jahren angemahnt, aber die Regierungen, unter dem Druck des transnationalen Sektors, konkurrieren immer noch im Lemmingswettbewerb und wursteln sich mit nationaler Schadensbegrenzung durch. Deshalb sind die patriotischen Rufe aus dem Kanzleramt, wenn nichts auf sie folgt, kaum mehr als warme Luft, verbunden mit einer Bitte um mildere Behandlung, und Wählerfang am linken und am rechten Rand.
So weit etwa war ich gekommen – die Dusche war immer noch heiß –, als meine Nichte aus Oldenburg den Kopf durch die Tür steckte: „Willst du Kaffe“, fragte sie, mit kurzem „e“, „oder Latte macchiato?“
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