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„Da müssen Sie noch mal ran!“

Siegfried Unselds Theorie des ersten Satzes. Ein sensationelles Literaturdokument

„Das ist mal ein Anfang, der neugierig macht, wie es weitergeht“

Ein gestern erstmals vom Suhrkamp-Verlag der Öffentlichkeit auf der Leipziger Buchmesse vorgestelltes Tonbandfragment aus dem Nachlass Siegfried Unselds gibt sensationelle Einblicke in die Suhrkamp-Kultur. Es entstand 1998 in Sils Maria anlässlich des Symposions „Kopfgeburt oder Kaiserschnitt? – Wege aus der Krise des deutschen Romans?“. Wir verschriftlichen als erste Tageszeitung der Welt auf ausdrücklichen Wunsch des Suhrkamp-Verlags dieses einmalige Dokument. Zu hören ist der Verleger Unseld, der einem Kreis junger Autoren auf der Terrasse des Hotels „Waldhaus“ seine „Theorie des ersten Satzes“ erläutert:

Viele Schriftsteller scheitern schon am Einstieg. Nun, meine Freunde, werden Sie natürlich wissen wollen, wie finde ich einen so fulminanten, jeden Lektor stante pede aus dem Sitz hauenden Anfangssatz? Gemach. Ich möchte zuerst anhand einiger Proben zeigen, wie man es nicht machen sollte.

Beispiel eins lautet: „Mein Bruder stand da, er bewegte seine kalten Füße nicht.“ Wenn der Bruder nicht mehr lebt, kommen sie bitte gleich auf den Punkt, liebe Frau Gabriele Wohmann. Schreiben sie einfach hin: „Mein Bruder war tot.“ Schließlich heißt ihr Roman „Abschied für länger“. Allerdings gebe ich zu bedenken, dass Leichen normalerweise nicht in der Gegend herumzustehen pflegen, sondern uns liegend, im amerikanischen Kulturkreis gern auch hängend entgegentreten. Sollte der Mann aber nicht gestorben sein und lediglich an Unterkühlung leiden, ist der Satz völliger Unsinn. Kalte Füße muss man bewegen, dass wusste schon Pfarrer Kneipp.

Auch Einstieg Nummer zwei ist ein klassischer Fehlstart. „Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr.“ Wir sind doch nicht in der Märchenstunde, Herr Kafka. Zumal sie ein „Urteil“ abhandeln wollen, wie sie uns im Anschreiben mitteilen. Sicher, die Justiz ist ein schönes, immer aktuelles Thema. Aber ich bitte Sie. „Das Urteil“: Da muss schon die erste Zeile nach Schuld und Sühne schmecken, nach Knast, Blechnapf, Ausbruch, blutiger Vendetta, womöglich Geiselnahme und so fort. Ein schönes Frühjahr ist da völlig kontraproduktiv. So wird jedenfalls keine schmissige Erzählung daraus, geschweige denn ein Roman. Mein Rat: Fangen Sie noch mal an.

Noch schlimmer ist Einstieg Nummer drei: „Als ich letzten Sommer in Schweden war, fiel mir zufällig das Buch meines Vaters ‚Stille Tage in Clichy‘ in die Hände, und ich begann sofort darin zu lesen.“ Stille Tage in Clichy und Lesen – das ist kein Anfang, das ist das Ende. Das verspricht übelste Stubenhocker-Prosa, Metaliteratur und Bildungshuberei. Mein lieber Henry Miller, wer soll denn nach dieser Schlafpille ahnen, dass wenige Seiten weiter ein erstklassig verlottertes Künstlerleben verhandelt wird? Suff, Gemeinheit und Topsauereien zu zweit, zu dritt und in allen Lagen? Die Kino- und Theaterfritzen lecken sich die Finger nach solchem Stoff. Aber die haben kaum Zeit, mehr als den ersten Satz zu lesen. Da müssen Sie noch mal ran.

Doch genug der Schelte. Dass es auch anders geht, demonstrieren unsere Nachwuchsdramatiker. Mit Hammereinstiegen wie diesem hier. „Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende.“ Das ist mal ein Anfang, der neugierig macht, wie es weitergeht. Gerade will man sich freudig erheben, weil das Stück gleich zu Beginn wieder aufhört. Im Kopf rotiert schon das Problem der angemessenen Nachbereitung, Mit wem, wo, welches Getränk und vor allem wohin danach. Zu ihr? Zu mir? Da zieht uns der Autor mit dem trickreichen Wörtchen „vielleicht“ zurück in den Sitz. Dabei lässt er perfiderweise offen, ob sich das Ausharren lohnt. Es geht „vielleicht“ zu Ende. Mehr hat der Autor nicht versprochen. Das ist psychologischer Feinschliff, ausgereiftes Timing, kurz: Genie. Bravo, Mr. Beckett. Ich wünsche Ihrem überragenden Talent, dass das Hochfeuilleton endlich die schmähliche Verleumdungskampagne einstellt und ihre pfiffigen Stücke nicht mehr als „absurdes Theater“ diffamiert.

Beim nächsten Anfangssatz wirkt die Antipartizipation noch unmittelbarer, weil uns der Autor sofort ins kritisch-polemische Zeitgeschehen zwingt. „Na, mündet die Wolga immer noch ins Kaspische Meer?“ Man ahnt den brisanten Wirtschafts- und Ökothriller. Ein paar finstere Oligarchen nutzen das Tohuwabohu im Russischen Reich, um die Landkarte nach ihren Vorstellungen umzukrempeln. Skrupellos überfluten sie renitente Teilrepubliken, ersäufen ganze Völkerschaften. Und der Westen sieht mal wieder tatenlos zu. Weiter so, Herr Majakowski.

Bleibt noch eines Mannes zu gedenken, dessen wahrhafter Genius zu den schönsten Hoffnungen Anlass gab. Er wurde abberufen in der Blüte seiner Jugend, vernichtet vom Nikotin und Teufel Alkohol. Was hätte er leisten können, wenn er nur ein paar Stunden am Tag nüchtern gewesen wäre oder ihm das reife Mannesalter die Flausen ausgetrieben hätte. Mindestens ein neues „Kätchen“ oder einen modernen „Berlichingen“ durften wir erwarten. Stattdessen blieben Leben und Werk Fragment. Aber welche Kunst liegt in diesem Anfang:

„Was kommt in Blut? In solchem Kleide steckt Nachricht.“ Frage und Antwort, Dichtung und Wahrheit, Suspense und Medienkritik, Heckler und Koch, Blohm und Voss, Marx und Engels, Starsky und Hutch, strenge Geschichtsphilosophie und humane Komik. Hut ab, Heiner Müller. MICHAEL QUASTHOFF

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