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WENN ERDOGAN IN BRÜSSEL SCHEITERT, SINKT SEIN STERN IN ANKARAHoffnungsträger unter Druck

Die türkischen Kommunalwahlen am Sonntag haben alle Erwartungen bestätigt: Die regierende AKP von Ministerpräsident Tayyip Erdogan ist weiter im Aufwind. Gegenüber den Parlamentswahlen vor eineinhalb Jahren hat die Partei noch einmal knapp 10 Prozent zugelegt. Zwar haben sich ganz hoch gespannte Erwartungen von mehr als 50 Prozent der landesweiten Stimmen nicht erfüllt, doch auch die jetzt erzielten 43 Prozent sind gegenüber den letzten Parlamentswahlen ein erheblicher Zugewinn.

Der Erfolg der AKP hat mehrere Gründe. Der wichtigste ist: Sie repräsentiert mittlerweile den konservativ-religiösen Mainstream der Gesellschaft, ohne dabei in islamistische Extreme zu verfallen. Sie hat die gesellschaftliche Mitte erobert und neu definiert. Dazu ist es ihr gelungen, die türkische Wirtschaft aus ihrer tiefsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg herauszuführen und Hoffnung auf einen Aufschwung zu vermitteln.

Die Kehrseite dieses Erfolges ist, dass Erdogan diese Hoffnungen nun aber auch auf Dauer nicht enttäuschen darf. Sonst ist sein Vertrauensbonus bald verbraucht. Die Regierung Erdogan hat – wie keine andere türkische Regierung vor ihr – ihre Existenz mit dem Projekt EU verknüpft. Der Weg in die Union, so hoffen Regierung und ihre Wähler, wird das Potenzial der türkischen Wirtschaft zum Tragen bringen und damit Investitionen und Arbeitsplätze ins Land holen. Vor diesem Hintergrund verhandelt Erdogan jetzt über eine Lösung in Zypern, und vor diesem Hintergrund finden die innenpolitischen Reformen in der Türkei statt.

Noch ist die Hoffnung groß, dass Erdogan die Türkei zu einem Erfolg führen kann, doch seine Gegner sitzen in den Startlöchern. Die rechtsradikale, ultranationalistische MHP, die eine Zypernlösung vehement ablehnt und bereits jetzt Verrat schreit, hat bei den Wahlen schon zugelegt und ist wieder über 10 Prozent gekommen. Scheitert Erdogan Ende des Jahres bei der EU und wird der Beginn von Beitrittsverhandlungen erneut vertagt, könnte sein Stern genauso schnell wieder sinken, wie er aufgegangen ist. JÜRGEN GOTTSCHLICH

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