: Bruttosozialprodukt Geiler Absturz
Jukebox
Die Geschichte der politischen Popmusik hierzulande muss umgeschrieben werden. Nicht Ton Steine Scherben werden in sie eingehen als relevante Kommentatoren der Geschicke der Bundesrepublik Deutschland, auch nicht Slime oder Die Fehlfarben. Schon gleich gar nicht aktuelle Aspiranten wie Wir sind Helden oder Knarf Rellöm. Seien wir doch ehrlich. Sie alle haben doch nichts bewirkt außerhalb ihrer kleinen Klientel, denen sie politische und soziale Weltanschauungen gepredigt haben, was die aber eh schon wussten. Den Scherben haben wir schlussendlich als letztes politisches Vermächtnis sogar noch eine Politikerin mit mattgrünem Bewusstsein, zweifelhaftem Modegeschmack, neckisch gefärbten Haarsträhnen und mit Hang zum Schlager zu verdanken. In einigen Jahrhunderten aber werden Pophistoriker feststellen: Die einzige deutsche Popband mit wirklicher politischer Bedeutung waren Geier Sturzflug. Lange vor ihren Konkurrenten hatte man das Primat der Wirtschaft verinnerlicht. Während andere noch von Revolution träumten oder die soziale Frage stellten, wussten sie bereits, dass all das marginal wird, wenn das „Bruttosozialprodukt“ nicht stimmt. Ohne Wirtschaftswachstum läuft gar nichts, das hat sich längst von CSU, CDU, SPD über Grüne und sogar bis zur PDS herumgesprochen. Geier Sturzflug wussten dass schon 1983 und das Volk grölte und tanzte dazu begeistert auf Bierzelttischen. Seitdem erreichen sie auf NdW-Revival-Feten, 80er-Jahre-Partys und Butterfahrten exakt das Publikum, das Wahlen entscheidet. In wenigen Tagen nun erscheint ihre neue Single und trägt den stimmigen Titel: „Arbeitslos“. Wer nun denkt, diese Erkenntnis käme ein wenig spät, dem sei gesagt: Der Titel ist bereits 26 Jahre alt und musste von den größten Politpropheten der deutschen Popmusik nur mehr notdürftig aktualisiert werden. Hier war jemand seiner Zeit wahrlich voraus. THOMAS WINKLER
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