: Macht und Masse
Die Körperwelten der Bremer Politik
Von Henning Bleyl
Wer die Interpretation der derzeitigen Bremer Koalitionsverhandlungen nur als Kaffeesatzleserei betreibt, verzichtet auf eine ebenso einfache wie hilfreiche Hilfswissenschaft: die Physiognomik. Dabei wissen wir spätestens seit Aristoteles, dass die äußere Erscheinung der Menschen nicht zu trennen ist von deren innerer Verfasstheit. Bezogen auf die Bremer Verhältnisse bedeutet das: Wer hier Macht ausüben will, muss dick sein – oder groß.
Sollte es wirklich so einfach sein? Kann man die Analyse von Wählerwanderungen und Themenstrategien getrost ersetzen durch Maßband und Waage? Immer wieder gern (hier gleichsam antizipativ) zitierte Regierungskreise reagieren mit einem entschiedenen „dämlich und zynisch – typisch taz“.
Stützen wir unsere These also mit einem Statement von Oscar Wilde. Der formuliert im „Bildnis des Dorian Gray“ unmissverständlich: „Nur Hohlköpfe urteilen nicht nach dem Äußeren.“ So gesehen ist die Erkenntnis unvermeidbar, dass Bremen seit 1995 von einer Koalition der Langen mit den Dicken regiert wird. Und das hat seine innere Logik.
Um die zu erkennen, muss man nicht die monolithisch in der Geschichte der BRD platzierte 16-jährige Herrschaft Helmut Kohls bemühen. Oder die Tatsache, dass Joschka Fischer erst dann mit seinen Ambitionen auf das Amt des EU-Außenministers an die Öffentlichkeit gehen konnte, nachdem diese die Wiederzunahme seines Gewichtes nachhaltig registriert hatte. Auch im kleinen Bremen gilt: Wiegste nix, biste nix. Biste klein, pack gleich ein. Oder ist es etwa Zufall, dass der physisch unbedeutende SPD-Fraktionschef Böhrnsen ein Mann der zweiten Reihe bleiben wird, während sein Counterpart von der CDU – Jens Eckhoff – über das Kaliber und die notwendigen Kalorien zum leading man verfügt? Nein.
Dass Klaus Pierwoß seinen Tariftanker am Goetheplatz erfolgreich verteidigt, während sich die zierliche Frau Manske nicht dagegen wehren kann, mit dem Wagenfeld-Museum an den Hafen abgeschoben zu werden? Abermals nein.
Schon der alte Lavater wusste: „Es ergiebt sich unwidersprechlich, dass alles große (...) an dem menschlichen Körper bedeutend sey.“ Zusammen mit Goethe hatte er bereits 1775 die Physiognomik als „Fragment zur Beförderung der Menschenkenntnis“ detailliert beschrieben.
Die visuelle Fixiertheit der modernen Mediendemokratie macht die Physis ihrer Protagonisten erst recht zu deren stärkster Waffe. Nehmen wir als Beispiel den Wahlabend in der Bürgerschaft: Dort konnte man erleben, wie Scherf schlichtweg qua Länge das Meer der 700 versammelten Medienleute teilte und zur huldigenden Menge degradierte. Oder, wie die herzliche Gratulation von Wirtschaftsprofessor Hickel schon durch den Größenunterschied der beiden einem Sich-vor-die-Füße-werfen gleich kam. Man darf zu Recht vermuten: Wäre Scherfs Rücken nicht nur lang, sondern das Kreuz noch ein wenig breiter – er hätte statt 42 satte 51 Prozent der Wählerstimmen abgeschleppt.
Auch ex negativo bestätigte sich das archaische Muster. Wer war am Wahlabend als erster vom Tisch? Der kleinste und schmächtigste in der Regierungsmannschaft. Dabei hatte sich Ex-Wirtschaftssenator Hattig alle Mühe zu geben, durch Drahtigkeit auszugleichen.
Allerdings können Kalorien, zur Unzeit angesetzt, auch gefährlich werden. Das demonstriert das Beispiel des zweiten senatorischen Bauernopfers, Kuno Böse. Zunächst hielt es ihn dank Masse noch zwei Tage auf dem Senatorensitz, von dem ihn die Gerüchte schon lange wegbliesen. Vorsorglich hatte sich Böse für die Auseinandersetzung mit dem innerparteilichen Rivalen Eckhoff gerüstet, hatte, zum Ausgleich fehlender Bremer Hausmacht, auf die normative Kraft der Bulette gesetzt – doch umsonst. Gerade sein schneller Zuwachs hatte Eckhoffs Misstrauen erregt, den Gegner geradezu unübersehbar gemacht. Knapper ausgedrückt: Böse ist zu früh zu dick geworden.
Andere haben die innere Logik dieser Vorgänge klüger analysiert und ihre Karrierestrategien auf die Formel „Jedes Pfund hat seine Zeit“ abgestimmt. Etwa Hermann K., Innenpolitiker einer in Bremen nicht eben regierungsfernen Partei. Nach Leibeskräften bemüht er sich, auch physisch senatorabel zu werden. Oder Wolfgang G. Der allerdings läuft Gefahr, den Sprung auf den Sitz des Justizsenators nicht mehr rechtzeitig zu schaffen. Ab einem bestimmten Grad der Ausdehnung beginnt das Gesetz der Massenträgheit seine kontraproduktive Wirkung zu entfalten.
Was wie eine heillos simplifizierende These klingt – „beizeiten eingesetzte Masse bedeutet Macht“ – entspricht in Wahrheit uralter Tradition und Erfahrung. Der Stärkste wird zum Häuptling gewählt. Der Größte hat den besten Überblick. Der Dickste kann sich und uns ernähren.
Aber ist nicht Willi Lemke – der ja Scherf als Bürgermeister beerben will – ein augenfälliger Gegenbeweis zum bisher Gesagten? Wiederum nein. Denn Lemke, ein Napoleon des deutschen Fußballs, zehrt im Unterbewusstsein der Wähler immer noch von der physischen Präsenz der früher von ihm kommandierten Werder-Recken. In großer Potenz ist Stärke delegierbar – ob in ausreichendem Maß, wird sich für Willi Lemke 2005 zeigen, im Jahr der angestrebten Amtsübernahme.
Ein Prinzip übrigens, das Hartmut Perschau offensichtlich nicht begriffen hat. Denn: Auch mit starken Tieren, die der eigenen Person zugeordnet werden, kann man Punkte auf der Martialitätsskala machen. Es müssen nicht gleich die Hannibal’schen Elefanten sein. Doch statt, wie die Herrscher früherer Zeiten, zumindest auf starken Rossen und mit großen Hundemeuten Eindruck zu schinden, zeigte sich Bürgermeister Perschau im Wahlkampf – mit einem Pinscher. Und wundert sich dann, dass ihn nur 16 Prozent als potenziellen Boss sehen.
Eckhoff hingegen scheint die Lavater-Lektionen gelernt zu haben. Seine öffentlich zelebrierten Abnehmrituale lassen zwar an der Klarheit der Strategie zweifeln – aber noch hat er sich nicht vom Sessel des Fraktionschefs heruntergehungert.
Machtpolitisch ist es also durchaus sinnvoll, dass sich die SPD für die CDU als Bündnisparter entschieden hat – anstatt die mickrigen Grünen auf die Ruderbänke des Regierungsbootes zu holen. Jetzt, wo mit Dieter Mützelburg der einzig veritable Recke der Partei abgetreten ist. Sie müssen sich ins politische Stammbuch schreiben lassen: Wer regieren will, muss mitessen.
Allerdings scheint der Konnex von Masse und Macht in der Regel ein männlicher Funktionsmechanismus zu sein – zumindest in Bremen. Der weibliche Teil der politischen Klasse an der Weser entzieht sich dem simplen maskulinen Erfolgsschema. Zu differenzieren ist die These auch nach der Henne-Ei-Frage. Macht Macht dick (beziehungsweise transformiert den Körper auf andere Art – wie es die viel beachteten Fotoforschungen von Herlinde Koelbl nahe legen)? Oder ermöglicht erst eine entsprechende Physis die Ergreifung derselben?
Im Fall Jens Eckhoffs hat vermutlich die Waller Bratkartoffelküche eine nicht unerhebliche Vorarbeit geleistet, ihn auf höchste Ämter vorzubereiten. Scherf hingegen musste, zusätzlich zu seiner Länge, erst jenes Maß an In-Group-Out-Group-Denken entwickeln und kommunizieren, das ihn zum Landesvater aller Willigen werden ließ. Und was des Bürgermeisters Körper in der Breite nicht bietet, kaschiert er unermüdlich mit seitlich abgestreckten Armen.
Fest steht: Äußerliche Raumergreifung stärkt das innere Standing. In Koalitionsverhandlungen ist es schwer, jemanden über den Tisch zu ziehen, der seinen Sessel feste ausfüllt. Fest steht ferner, dass Jens Eckhoff in 16 Jahren Bremer Bürgermeister ist (im schlechteren Fall Oberbürgermeister) – während der Stellenwert von CDU-Landesgeschäftsführer Heiko Strohmann der Größe einer Fußnote in Bürgerschaftsprotokollen entsprechen wird. Es sei denn, er beginnt endlich mit einer konsequenten Ich-will-mehr-sein-Diät. Mahlzeit.
Fotos: Tristan Vankann (Scherf) und Michael Jungblut (Eckhoff I/2000)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen