: Ohne Reserven
Das SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH
Im ICE-Großraum sitzen, mit Zeitungen und einem Roman, draußen die blühenden Landschaften um Ludwigshafen und die Doppeltürme der Deutschen Bank – das führt zu großräumigen Fragen. Zum Beispiel zu der, ob im Jahre 2070 der Name Sir Philip Watts in historischen Untersuchungen auftauchen wird – etwa in einer Dissertation mit dem Titel „Erkenntnis und Interessen – Der Beitrag der globalisierten CEOs zur Energiekatastrophe der 40er-Jahre“ oder einem guidoknoppartigen Feature „Menschheitsverbrecher auf Chefsesseln“.
Jahrelang hat Sir Philip, der Vorstandschef von Shell, die Zahlen über die Ölreserven seines Konzerns gefälscht. Nun musste der Ölmulti die Zahlen nach unten korrigieren. Um 22 Prozent. Nicht mehr 19, sondern 15 Jahre reichen seine Vorräte. Walter van de Vijver, der Shell-Vorstand für Produktion und Exploitation, hatte jahrelang mit seinem Boss um eine Korrektur der gefälschten Zahlen gerungen und ihm dann schließlich eine E-Mail geschickt: „I am becoming sick and tired of lying.“ Derlei moralische Magenregungen machen in der verschworenen Gemeinschaft der Profitmehrer eher misstrauisch, das dürfte der Grund sein, dass auch van de Vijver seinen Schreibtisch räumen musste. Die globale Herrenklasse hat ihren Comment: Ertappte werden fallen gelassen und Verräter bestraft. Die Vermutung liegt nahe – auch nach einigen anderen Vorfällen mit Acker- und sonstigen Männern – dass Enron et cetera nur erste Eisbergspitzen waren. Wahrscheinlich ist eine ganze Flotte von kriminellen Gletscherbrocken im nordatlantischen Raum unterwegs, mit verheerenden Folgen für den Golfstrom. Wir haben sie nur noch nicht gesichtet, das werden, wie immer, unsere Kinder.
Wahrscheinlich, so schrieb der Economist, sei das ganze Topmanagement informiert und am Betrug beteiligt gewesen: „eine Tragödie shakespeareschen Ausmaßes“. Nun, unser Mitleid mit Schurken und Shareholdern hält sich in Grenzen, denn die wahre Tragödie hat eher epische Ausmaße. Es geht schließlich nicht um Geld allein, sondern um Öl. Um den Überlebenssaft dieser Spätzivilisation. Und da müssten die Alarmglocken auch bei Politikern und Bürgern läuten. Wieweit können wir den Zahlen trauen, die den Zeitraum bis zum Ende des Öls markieren? In welche Klemmen gerät die fossile Zivilisation, wenn nicht nur die Multizahlen gefälscht wären, sondern auch die Ölstaaten um ihrer Kreditwürdigkeit willen dazu neigten, mehr Öl im Wüstenboden zu melden als tatsächlich drin ist?
In keine größere, als uns ohnehin bevorsteht, nur etwas schneller. Die Zeit bis zum Ende der Öls ist knapp bemessen. Selbst nach optimistischsten Schätzungen werden die Quellen etwa ums Jahr 2045 versiegen – wenn der Weltverbrauch nicht mehr ansteigt, was schon wegen der rasanten Motorisierung Indiens und Chinas illusorisch ist. China allein hat im letzten Jahr seine Ölimporte um 20 Prozent gesteigert. 2035 scheint eine realistischere Zahl für den Zapfenstreich, und alle Hoffnungen über weitere Reserven sind auf Sand gebaut. Auf Ölsand, den zu fördern so teuer ist, dass das erste Konsortium gerade Pleite geht. Wir nähern uns dem Zeitpunkt, an dem „der letzte Tropfen Mineralöl verbrannt ist“; vorher, schrieb vor hundert Jahren Max Weber, werde die weltfressende Kapitalismusmaschine nicht anhalten.
Und je näher dieser Zeitpunkt rückt, desto aggressiver wird das kapitalistische Johannisfieber, die Geldgier, die Übernahmeschlachten auf den Weltmärkten ohne eigenes Risiko für die Matadore, die sich – wie Jürgen Schrempp – die Verträge verlängern lassen, bevor sie den schlecht kalkulierten Größenwahn korrigieren, woraufhin irgendwo in der Welt tausende entlassen werden und tote Städte übrig bleiben, während sie schon nach China unterwegs sind, um neue „Weltkonzerne“ zu schmieden und das große Werk der Durchmotorisierung der Welt zu Ende zu bringen.
Die zunehmende Brutalität und Kriminalität der globalen First Class ist ein Indiz dafür, dass die Herren dieser Welt die Kapitalismusdämmerung ahnen, in der, wie ein deutscher Philosoph einst prognostizierte, „mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung [wächst] und das Kapitalmonopol zur Fessel der Produktionsweise [wird], die mit ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit – und fügen wir hinzu: die Erschöpfung der Grundlagen dieser Produktionsweise – erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle.“
Das war also lange vorauszusehen, und die eigentliche Tragödie, und die übersteigt shakespearesche Dimensionen, ist die „Torheit der Regierenden“. So hieß Barbara Tuchmanns Buch über die politischen Eliten von Troja bis Vietnam. Ihr Fazit: Immer haben sie bis zum bitteren Ende weitergemacht, sie lernten immer erst, wenn es zu spät war. Torheit? Ach, der Titel ist veraltet, eher geht es um Impotenz. Die Parlamente und Regierungen haben abgedankt, und sie bekennen sich dazu, denn sie sind desselben Glaubens: dass „die Wirtschaft“ die Welt gestaltet, Wachstum immer weitergeht, billigere Arbeit Wohlstand schafft, die Senkung der Steuern den Reichtum der Nationen steigert. Aus dieser Ohnmacht der Regierenden kommt es, dass die Billionen Dollars von überakkumuliertem Kapital – das Resultat der Arbeit von zwei Jahrhunderten – nicht benutzt werden können, um einen gesteuerten, sanften Übergang zur postfossilen, solaren Welt ins Werk zu setzen – deren technische Voraussetzungen ebenso vorhanden sind wie die gedanklichen Vorarbeiten. Aber die Überlegungen zu einer nachhaltigen, solaren Weltgesellschaft, die in den 80er-Jahren ganze Bibliotheken füllte, sind in der Konzernpresse-Öffentlichkeit vergessen, und im Bundestag sitzt ein einsamer, gelegentlich erfolgreicher Kämpfer, Hermann Scheer – morgen wird er sechzig Jahre alt. Stattdessen dreht die winzige Gesellschaft derer, die diese Billionen besitzen, immer weiter an den Rationalisierungsschrauben von immer weniger Welt und immer weniger Menschen.
„Wovor fürchten Sie sich eigentlich“, habe ich einmal Jürgen Schrempp gefragt. „Vor nichts“, sagte er, „nur vor Wahnsinnigen.“ Im Spiegel dieser Woche diagnostiziert Otto Schily einen „grundlegenden zivilisatorischen Konflikt“ zwischen „Männern, die den Tod lieben“, und dem Rest der Welt, aber auch er meint es anders, eher so wie die Elite im Weißen Haus, die schon lange glaubt, man könne die Förderung und die Buchführung nicht den Arabern überlassen.
Etwa um 2250 werden die Fabrikherren in Brüssel die Macht ergreifen und die Parlamente beiseite räumen mit den Worten: Wir kennen nur noch Standorte und Arbeiter. So steht es in Alfred Döblins großem Roman „Berge, Meere und Giganten“. Die Folge dieses Machtwechsel waren Klimakatastrophen, neofeudale Machtkämpfe, Migrationsströme, Staatenzerfall, wirre Weltkriege. Im Jahre 1924 schrieb Döblin das. Wir müssen seine Prognose über die Demokratiereserven nach unten korrigieren. Um hundert Prozent. Time to get sick and tired again.
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